Kommentar

kontertext: Sind faire Medien ein Wunschtraum?

Alfred Schlienger © zvg

Alfred Schlienger /  Fairmedia lädt zur prominent besetzten Fachtagung über den Umgang mit Fake-News, das Publikum strömt – und die Medien schweigen.

Das zeitliche Zusammentreffen war natürlich Zufall. Am 23. Juni 2017 war das Urteil des Bundesgerichts in der Sache Carl Hirschmann gegen Tamedia veröffentlicht worden, in dem der Milliardärssohn einen Teilerfolg erzielt hatte bezüglich der Kampagne, die das Medienhaus über Jahre hinweg und mit über 140 inkriminierten Artikeln gegen den (zweifellos zwielichtigen und inzwischen verurteilten) Jetsetter geführt hatte. Auch ein Carl Hirschmann hat Persönlichkeitsrechte, die hier nach Beurteilung des Bundesgerichts verletzt worden waren. Am gleichen 23. Juni führte der vor eineinhalb Jahren gegründete Verein Fairmedia, der Betroffenen medialer Überschreitungen kostenlose, praktische Unterstützung anbietet, seine erste öffentliche Fachtagung durch. Die wenigsten Medienopfer können auf ein Millionenerbe zurückgreifen und sich einen jahrelangen Prozess bis zum Bundesgericht leisten. Solchen «normalen» Medienbetroffenen beizustehen, ist eines der erklärten Ziele von Fairmedia.

Welchen Informationen kann ich trauen?

Die Tagung im vollbesetzten Auditorium der juristischen Fakultät der Universität Basel stand unter dem Titel: «Fakten, Daten, Lügen – welchen Informationen kann ich trauen?». Rund 100 Interessierte jeden Alters fanden sich zu einem konzentrierten und prominent besetzten Programm zusammen. Aus der ganzen Schweiz und auch aus dem Ausland war man angereist, und es hat sich gelohnt. Hier können nur ein paar Stichworte zu einzelnen Referaten und zum Podiumsgespräch aufgeführt werden. Die wichtigsten Inputs werden aber in Kürze auf der Website von Fairmedia aufgeschaltet und können dort im Videoformat nachgeschaut werden. Auch alle weiteren Informationen zu diesem für die Schweiz neuen Verein sind dort zu finden.

Journalistik-Professor Vinzenz Wyss eröffnete den Reigen der Referate und ordnete den Fake-News-Diskurs ein in die allgemeine Vertrauens-, Qualitäts- und Ressourcenkrise in der aktuellen Mediensituation. Von Fake-News könne man nur sprechen, wenn bewusst gefälscht und verbogen werde, die Produzenten also wissen, dass der Realitätsbezug nicht besteht. Noch sei das Vertrauen ins Mediensystem in der Schweiz mit 60 Prozent etwas höher als z.B. in Deutschland mit 40 Prozent. Regelmässige Nutzung fördere, wie Untersuchungen zeigten, das Vertrauen ins Mediensystem. Wyss zitierte aber auch das apokalyptische Wort von Otfried Jarren, dem Zürcher Publizistikprofessor und Präsidenten der Eidgenössischen Medienkommission: «Die klassischen Massenmedien werden nicht überleben.» Die Multiplizierung der Gatekeeper im Internetzeitalter habe zu einer Erosion der institutionellen Wissensordnung geführt, so Wyss. Im Gegensatz zur Wissenschaft, die das Normale analysiere, bilde der Aufmerksamkeit generierende Journalismus das ab, was irritiert und abweicht.

Fakten- oder Narrations-Check?

Der Wandel der Kommunikations- und Medienordnung habe dazu geführt, dass Journalismus von jedem Akteur ausgehen könne. Wyss plädierte für einen pragmatischen Wahrheitsbegriff, der aber begründbar sein müsse und seine Regeln offenlege. Für wichtiger als einen isolierten Fakten-Check hält er einen Narrations-Check: Könnte die Geschichte nicht auch anders erzählt werden? «Das Narrative ist psychologisch das Wirkungsmächtigere», betonte Wyss. Seine Kollegin Katharina Kleinen-von Königslöw von der Universität Hamburg zeigte auf, wie sich die individuelle Nutzung von journalistischen Erzeugnissen durch den indirekten Zugriff über diverse Internet-Plattformen konkret verändert. Bereits heute beschafft sich ein Drittel der Bevölkerung journalistische Informationen über Facebook. Das ergebe eine ganz andere Motivation: Beziehungspflege und Identitätsmanagement stehen im Vordergrund. «Facebook hat mit Emotionen und Vielnutzung zu tun und nicht mit Wahrheitsvertiefung. Das Design der Nutzungsoberfläche fördert schnelle Reaktionen, nicht vertieftes Reflektieren. Klick mal! statt Denk mal!»

Kleinen betonte auch die journalistischen Glaubwürdigkeitsrisiken durch die sogenannte Bestätigungsverzerrung: Die Qualität der Quelle, die auch oft gar nicht auszumachen sei, werde deutlich überformt durch den Vertrauensvorschuss des Empfehlenden. Homogene Freundeskreise führen so fast zwangsläufig zu Fehleinschätzungen (Stichwort Filterblase). – Was tun? Katharina Kleinen plädierte für drei Dinge: Für mehr digitale Kompetenz bereits in den Schulen, für ein schärferes Bewusstsein für die Selbstbestätigungsfalle und für ein offensives Vertreten der Haltung, dass guter Journalismus für die Demokratie unverzichtbar ist – eine Profession eben mit einer Ausbildung.

Wie wahrhaftig wollen Medien sein?

Das abschliessende Podium war eines der besten Mediengespräche der letzten Jahre. Es drehte sich unter der Leitung des Publizisten Matthias Zehnder um Wahrhaftigkeit und die Wichtigkeit von verlässlichen Marken, um die Gefahren der Anonymität und der grenzenlosen Verbreitbarkeit der neuen sozialen Medien, um Tod oder Wiederaufleben der Print-Titel, und nicht zuletzt diskutierte man engagiert über die Rolle der SRG. Hier ein paar der prägnanten Wortmeldungen:

  • «Es gibt zwar immer einen Interpretationsspielraum, was aber nicht heisst, dass es keine klaren Fakten gibt. Das bewusste Unterschlagen oder Verfälschen von Fakten ist etwas ganz anderes.» (Min Li Marti, Chefredaktorin der Wochenzeitung P.S.)
  • «Darüber, wie Wahrhaftigkeit herzustellen ist, besteht in vielen Bereichen ein Konsens. Der Journalist muss einen informierten Leser herstellen wie der Arzt einen informierten Patienten, der einer Therapie zustimmen können muss.» (Dominique Strebel, Jurist und Journalist, Studienleiter MAZ)
  • «Leser müssen differenziert erkennen und unterscheiden können, was heute besonders schwierig ist, weil medienmässig sich das Alte verabschiedet und das Neue noch nicht da ist. Das erschwert das Entstehen von Glaubwürdigkeit massiv.» (Hansi Voigt, Ex-Chefredaktor Watson, Medienberater)
  • «Wir kriegen einen vernünftigen Wechsel nicht hin, weil’s so verdammt teuer ist.» (Pascal Sigg, Mitgründer des Online-Magazins Coup)

Krise der alten oder der neuen Medien?

  • «Die eigentliche Krise liegt bei den sozialen Medien mit ihrer undurchschaubaren Quellenlage. Qualitätsmarken wie New York Times, Washington Post oder der Spiegel haben ja Zulauf.» (Esther Girsberger, Ex-Chefredaktorin Tages-Anzeiger, Medienunternehmerin)
  • «Es gibt sehr wenig Selbstkritik in den Printmedien. Der massive Ressourcenmangel wird oft gar nicht bemerkt oder verdrängt.» (Min Li Marti)
  • «Nicht nur die Marke, sondern der einzelne Text muss Glaubwürdigkeit herstellen, und das ist messbar. Wir müssen auch fragen: Welches ist das Narrativ, welches sind die Einordnungsfaktoren von Facebook, Google & Co.?» (Dominique Strebel)
  • «Wie wichtig ist die Marke? Die Leute brauchen und wollen das! Ich will vertrauen können, und deshalb brauche ich eine verlässliche Marke.» (Pascal Sigg)

Welche Rolle könnte die SRG spielen?

  • «Journalismus ist kein Geschäft mehr, aber wir brauchen trotzdem oder jetzt erst recht Konkurrenz. Deshalb ist die SRG sehr wichtig.» (Hansi Voigt)
  • «Die SRG muss Standards setzen.» (Pascal Sigg)
  • «Die SRG ist als einziges Medienunternehmen zur Sachgerechtigkeit verpflichtet, muss Vielfalt und freie Meinungsbildung ermöglichen. Diesen Anspruch müsste man zwingend auf die neuen Medien übertragen.» (Dominique Strebel)

In der Schlussrunde war man sich weitgehend einig, was zu tun wäre, um uns alle fit zu machen für bzw. gegen den Umgang mit Fake News. Esther Girsberger unterstrich die Bedeutung von Erziehung und Schule zum Wecken und Fördern der Kritikfähigkeit. Zudem brauche es eine gezielte, an konkrete Bedingungen geknüpfte Presseförderung: «Man muss den Presserat stärken, die Medienförderung muss an die Einhaltung der Standesregeln geknüpft werden, es braucht Qualitätsstandards, und die vom Presserat monierten Verstösse dagegen gehören auf die Titelseite», betonte Pascal Sigg. Und Min Li Marti meinte zum Schluss ganz ohne Wehmut: «Es gibt keinen Weg zurück. Ärzte müssen auch damit leben, dass die Patienten ihre Symptome bereits gegoogelt haben.»

Fairmedia ist ein Mutmacher

Fairmedia, der Verein für fairen Journalismus, ist ein Mutmacher – zum breiten medialen Diskurs auf anspruchsvollem Niveau, zum Widerstand auch jeder betroffenen Einzelperson, die hier Unterstützung findet, um sich gegen mediale Übergriffe zur Wehr zu setzen. Fairmedia informiert auch die Öffentlichkeit regelmässig über die Verletzung von Fairness und Persönlichkeitsrechten im Journalismus. Die Medieninitiative «RettetBasel!» hat mitgeholfen, diesen professionell geführten Verein aufzubauen. Dass bereits die erste Fachtagung mit dieser exzellenten Besetzung stattfinden konnte und eine so starke, auch überregionale Ausstrahlung fand, darf jeden kritischen Medieninteressierten freuen. Weniger wundern sollte man sich allerdings darüber, dass bisher kein einziges etabliertes Medium darüber berichtet hat. Faire Medien sind kein Wunschtraum. Man weiss genau, worauf es ankäme. Aber es braucht – um nur das Wichtigste zu nennen – Können, Ressourcen, Unabhängigkeit und Haltung.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Alfred Schlienger, Theater- und Filmkritiker, u.a. für die NZZ; ehem. Prof. für Literatur, Philosophie und Medien an der Pädagogischen Hochschule; Mitbegründer der Bürgerplattform RettetBasel!; lebt in Basel.

  • Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Corina Lanfranchi, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.

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