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Strafbefehle: Justizia ohne Richterinnen und Richter © cc

Wer kontrolliert die Fliessbandarbeiter der Gerechtigkeit?

Dominique Strebel /  Strafurteile werden nur ganz selten öffentlich im Gerichtssaal gefällt. Über 90 Prozent der Fälle werden am Computer erledigt.

Ein gesichtsloses Bürogebäude. Im Erdgeschoss Kleidermode und Coiffeur, darüber eine Herzpraxis. Und die Staatsanwaltschaft 3 des Kantons Luzern. Hier residieren die Fliessbandarbeiter der Gerechtigkeit. Im kargen Zimmer des Sekretariats der Staatsanwaltschaft (drei weisse Tische zu einem Block gestellt, farbige Aktenbündel geschnürt, zwei Strafgesetzbücher kartoniert, ein Kopierer im Monsterformat) leuchtet der Bildschirm eines Computers.

  • Das ist der «Gerichtssaal». Hier wird Recht gesprochen. Und zwar in Form eines PDFs.

Auf dem Bildschirm warten achtzig Urteile darauf, öffentlich verkündigt zu werden. Sie wurden im Zeitraum vom 10. bis 20. Januar 2018 rechtskräftig. Mehr bekommt man als Vertreter der Öffentlichkeit nicht zu sehen. Ausser man reist in zehn Tagen wieder an für die nächste Tranche. Denn mehr als zehn Tage auf einmal gibt es nicht.

«Sie sind der Erste, der extra herkommt», sagt die Sekretärin und klärt über das Passwort auf. Mit dem Einloggen ins Computersystem findet hier erstmals die öffentliche Verkündigung des Rechts statt – die Publikation eines PDFs, eines Bandwurms aneinandergereihter Strafbefehle. Die Premiere erstaunt. Denn in diesen Büroräumen werden 98 Prozent aller Strafentscheide im Raum Entlebuch, Willisau und Sursee ausgesprochen. Dass noch nie jemand hier war, hat vor allem mit dem restriktiven Zugang zu tun.


Auszug aus einem Strafbefehl (redaktionell bearbeitet)

So schnell wird man kriminell. Und so profan wird das Drama – zumindest strafrechtlich – abgehakt. Man könnte auch sagen: entsorgt – mit Einzahlungsschein im Anhang. Der Rechtsfrieden ist wiederhergestellt. Rösti Gertrud Lina hat das Urteil akzeptiert. Zur Sache wurde sie nicht gehört. Das müssen Staatsanwälte nicht, wenn sie richten. Ihre Entscheide heissen Strafbefehle und gelten juristisch als Vorschlag. Wenn die Beschuldigte nicht einverstanden ist, kann sie Einsprache erheben. Erst wenn der Staatsanwalt an seinem Entscheid festhält, kommt der Fall vor Gericht.
Nur die wenigen grossen Fälle kommen vor Gericht

Klar: Die achtzig Strafbefehle sind nur ein kleiner Ausschnitt. Und klar: Bei den grossen Fällen dürfen Staatsanwälte nicht selbst entscheiden, sondern müssen vor Gericht Anklage erheben. Die grossen Fälle sind die, bei denen Freiheitsstrafen von über sechs Monaten oder Geldstrafen von über 180 Tagessätzen gefordert werden. Doch 2016 geschah das in dieser Region 22-mal, also knapp zweimal pro Monat.

Im selben Zeitraum hat die Staatsanwaltschaft 4799 Strafbefehle gefällt. 42 dieser Fälle kamen später doch noch vor Gericht. Zählt man die 22 direkten Anklagen hinzu, sind es 64. Das heisst: Bei weniger als zwei Prozent der Strafentscheide hat ein Gericht das letzte Wort.

Vergessen Sie also die Richter. Die Staatsanwältinnen haben das Sagen. Und sie entscheiden nicht im Gerichtssaal, sondern im Büro an ihren flimmernden Bildschirmen.

  • Strafrechtsprofessoren kritisieren das seit Jahren als rechtsstaatlich bedenklich. Ändern tut sich daran nichts. Weil das System zu effizient ist.

Auf dem grauschwarzen Spannteppich neben Monsterkopierer und Bildschirm steht André Graf. Er leitet das Team von drei Staatsanwälten und einer Staatsanwältin, das diese 4799 Strafbefehle erlassen hat, durchschnittlich drei bis vier pro Staatsanwalt jeden Tag. «Ich sehe die Beschuldigten in der Regel nur, wenn sie gegen den Strafbefehl Einsprache erhoben haben», sagt Graf. Dann sprechen die Staatsanwälte mit ihnen und versuchen im Detail abzuklären, was passiert ist. «Einvernahme zwecks Klärung des Sachverhalts» nennt das Graf. «Je nach Ergebnis der Einvernahmen ergeben sich neue Aspekte, was zu einer Änderung des Strafmasses oder zu einer Einstellung des Verfahrens führen kann.» Staatsanwalt Graf trägt einen ärmellosen Strickpullover, Jeans, offenes Hemd. Graue Haare, schwarze Metallbrille. Er strahlt in seiner direkten, offenen Art Klarheit und Verständnis aus. Dem Mann würde man jede Sünde beichten.


Auszug aus einem Strafbefehl (redaktionell bearbeitet)

Künzli Alfred und Rösti Gertrud Lina mit ihrem Verstoss gegen die Vorfahrtsregel: Sie sind eher exotische Fälle. Sonst schlägt sich der Staatsanwalt vor allem mit Schnellfahrern (Hildisrieden 19 Stundenkilometer, Beromünster 17 Stundenkilometer, Roggliswil 17 Stundenkilometer – jeweils 400 Franken Busse) und – in abnehmender Zahl – Drogendelikten herum (15 Portionen à 0,7 Gramm Kokain: 200 Franken Busse; 8 Gramm Marihuana, 4–5 Gramm Kokain: 250 Franken Busse). Manchmal beschäftigen ihn Schwarzfahrer, im Justizjargon das «Benützen eines öffentlichen Verkehrsmittels ohne gültigen Fahrausweis» (60 Franken Busse). Dann wieder Sattelschlepper, die zu hoch beladen sind (4,07 Meter statt der zulässigen 4 Meter: 400 Franken Busse) oder «das Führen eines Personenwagens in einem nicht betriebssicheren und vorschriftsgemässen Zustand».

So nennt es die Justiz, wenn jemand zum Beispiel das Tanken vergisst: Drigo Francesco* wollte zurück nach Italien, doch er blieb auf der A2 bei Sursee «pflichtwidrig wegen fehlendem Benzin stehen» – 350 Franken Busse.

Die achtzig Strafbefehle zwischen dem 10. und 20. Januar erlauben einen Einblick, wie die Menschen auf dem Lande zwischen Entlebuch, Willisau und Sursee ticken, was sie umtreibt und was sie manchmal aus heiterem Himmel zu Kriminellen macht. Es ergibt sich das beruhigende Bild einer Alltagskriminalität, die in ihrer Banalität erstaunt. Kaum schwere Körperverletzungen, Vergewaltigungen, Raubüberfälle. Sondern Drogenkonsumenten, Schnellfahrerinnen und Raufbolde.


Auszug aus einem Strafbefehl (redaktionell bearbeitet)

Diese Kriminalität gibt es überall, in jeder Gesellschaft. Mit ihr befassen sich Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in Rikon, Waltensburg, La Brévine, Zürich oder Genf gleichermassen – auch wenn sie in einer Grossstadt anders zusammengesetzt ist als im Entlebuch. Doch immer gilt: Das Strafbefehlsverfahren funktioniert wie ein Abwassersystem, wenig sichtbar und der Öffentlichkeit weitgehend entzogen. Es ist die Kanalisation der Justiz, wo der Grossteil der Kriminalität diskret und effizient entsorgt wird. Gegen Einzahlungsschein.

*Alle gekennzeichneten Namen wurden geändert.
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Dieser Artikel erschien zuerst auf Republik.ch


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Jurist und Journalist Dominique Strebel bloggt, wenn neue Urteile den Journalisten bei der Recherche helfen, wenn Richter oder Gesetzgeber Medienschaffende behindern oder Missstände in der Justiz auftreten. Dominique Strebel arbeitet als Journalist in Zürich, ist Co-Herausgeber des Buches «Recherche in der Praxis», Mitbegründer des Schweizer Recherchenetzwerkes investigativ.ch und Studienleiter an der Schweizer Journalistenschule MAZ.
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4 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 7.04.2018 um 12:18 Uhr
    Permalink

    Gehört zu den Beiträgen, die es mich nicht reuen lassen, an Infosperber bis jetzt einen freiwilligen Abonnementsbeitrag bezahlt zu haben. Unterstützung von Qualität muss mehr sein als bloss Belohnung für «gleiche Meinung».

  • am 7.04.2018 um 13:47 Uhr
    Permalink

    By the way – man sollte nicht von Gerechtigkeit sprechen, wenn bloss (geltendes) Recht gemeint ist…….

  • am 8.04.2018 um 20:29 Uhr
    Permalink

    Zwei gute Kommentare von PM und FPD. Beide noch einmal lesen und (falls nicht schon geschehen) beide beherzigen!

  • am 8.05.2018 um 12:50 Uhr
    Permalink

    Geht es dabei um ‹Gerechtigkeit› oder nur um Einnahmen für den Staat zu generieren?
    Der Strafbefehl dient m.E. nur dazu, die Leute über den Tisch zu ziehen, da man innert 10 Tage dagegen schriftlich mit Originalunterschrift Einsprache erheben muss. Bis der Betroffene realisiert, was einStrafbefehl bedeutet, sind die 10 Tage längstens vorbei.

    Ein Strafbefehl ist kein Vorschlag für eine aussergerichtliche Einigung, sondern die Aberkennung sämtlicher Rechte. Sonst würde nicht noch gleichzeitig mit einer Ersatzfreiheitsstrafe gedroht werden, wenn der Betroffene die Busse nicht bezahlt. Und die ‹Einsprache› ist ein vielmehr Antrag, die Behörde möge sich doch an die völkerrechtlich garantierten Menschenrechte halten.
    In Österreich und Liechtenstein muss das ordentliche Verfahren durchgeführt werden, wenn die Busse nicht bezahlt wird, in der Schweiz wird er jedoch ohne Gerichtsurteil weggesperrt.

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