Kommentar

Aung San Suu Kyi – und Oslo schweigt

Jürg Müller-Muralt © zvg

Jürg Müller-Muralt /  Der Friedensnobelpreis hat eine wichtige Funktion. Deshalb müsste das Komitee in Oslo auch einmal die Zurückhaltung ablegen.

Die Europäische Union, Barack Obama, Mutter Teresa, Willy Brandt, Yasser Arafat, Michail Gorbatschow, Ärzte ohne Grenzen, Nelson Mandela, Malala Yousafzai – und eben auch Aung San Suu Kyi: Sie alle haben einmal den Friedensnobelpreis erhalten. Mutter Teresa ist seit dem vergangenen Jahr auch noch eine offizielle katholische Heilige. Aber sonst finden sich unter den bisher 130 Preisträgerinnen und Preisträgern nicht übermässig viele «Heilige». Im Gegenteil: Zahlreiche Entscheide des norwegischen Friedensnobelpreiskomitees wurden bereits bei der Bekanntgabe heftig kritisiert, viele Ausgezeichnete wiederum haben sich im Laufe ihres weiteren Lebens so verhalten, dass sie den Preis rückblickend wohl nie erhalten hätten.

Die schönen Worte von 2012

In diesen unrühmlichen Kreis gehört nun auch Myanmars einstige Freiheitskämpferin und Menschenrechtsaktivistin Aung San Suu Kyi. «Möge die Welt jene nicht vergessen, die von Hunger, Krankheit, Vertreibung, Arbeitslosigkeit, Armut, Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Vorurteilen und Fanatismus betroffen sind», sagte sie in ihrer Dankesrede 2012. Sie konnte den bereits 1991 zugesprochenen Friedensnobelpreis erst damals abholen, weil sie zuvor von Myanmars Militärjunta unter Hausarrest gestellt worden war. Heute ist sie De-facto-Regierungschefin ihres Landes und hat offensichtlich nicht nur ihre grossen Worte von 2012 vergessen, sondern verdrängt auch die Unterdrückung, Verfolgung und Vertreibung der muslimischen Minderheit der Rohingyas in ihrem eigenen Land.

Dass dem schleichenden Genozid nicht tatenlos zugeschaut werden darf, ist klar. Dass Hunderttausende in einer Petition fordern, Aung San Suu Kyi den Friedensnobelpreis abzuerkennen, ist verständlich. Als Aufschrei des Protestes ist die Aktion berechtigt; doch sie verkennt den Charakter dieser Auszeichnung. Die offizielle Version hat das Nobelkomitee bereits geliefert: Es können nur die vor der Zuerkennung des Preises erbrachten Leistungen und Verdienste bewertet werden. Das Nobelkomitee kann in der Tat nicht voraussehen, wie sich eine ausgezeichnete Person oder Institution entwickelt. Die Preisvergabe ist allerdings nicht nur eine Auszeichnung, sondern auch eine Aufforderung, sich des Preises würdig zu erweisen, eine Aufforderung auch, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen.

Das Nobelpreiskomitee ist kein Gericht

Das Friedensnobelpreiskomitee in Oslo ist kein Gericht, das darüber zu wachen hat, ob sich die Preisträger den Vorstellungen des Komitees gemäss entwickeln, oder ob mit dem Entzug der Auszeichnung allenfalls die Höchststrafe auszusprechen sei. Das würde zu einer epischen Debatte, zu ständigen Pressionsversuchen und damit in Teufels Küche führen. Dies vor allem auch angesichts der Spannweite der Preisträgerinnen und Preisträger. Die Vergabepraxis wirft immer wieder Fragen auf. Warum wird einmal ein Spitzenpolitiker ausgezeichnet, ein andermal eine 19-jährige Pakistanerin wie 2014 Malala Yousafzai für ihren Kampf gegen die Unterdrückung von Kindern und Jugendlichen und für das Recht aller Kinder auf Bildung? Was hat das mit dem Weltfrieden zu tun? Genau darin, in all diesen Fragen, liegt ein Teil des Mythos’ des Friedensnobelpreises. Geir Lundestad, früherer Direktor des Nobelinstituts und Sekretär des Nobelkomitees, sagte dem Autor dieses Beitrags vor rund 15 Jahren, er liebe Kontroversen, «vor allem wenn es um den Friedensnobelpreis geht. Wenn es keine Kontroversen gäbe, wäre er wertlos und irrelevant.»

Der Wert der Kontroverse

In der Kontroverse, in der Debatte steckt ein grosser Teil des Wertes dieser Auszeichnung. Und diese Kontroversen haben in der Vergangenheit der Bedeutung des Friedensnobelpreises keinen Abbruch getan. Er ist nicht nur der bekannteste der weltweit über 300 Friedenspreise, er gilt auch als der prestigeträchtigste Preis der Welt überhaupt; die Verleihung in Oslo findet jeweils ein riesiges Medienecho. Wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil sich alle dazu eine Meinung bilden können – im Gegensatz zu den fachspezifischen Nobelpreisen.

Der Friedensnobelpreis ist immer eine politische Intervention. Auf den Gang der Dinge hat er zwar kaum Einfluss. Aber er zwingt uns, darüber nachzudenken, was Frieden bedeutet, welche unterschiedlichen Voraussetzungen es für ein einigermassen friedliches Zusammenleben braucht. Es geht nicht allein um Abrüstung und Friedensschlüsse, sondern ganz entscheidend auch um Vorstufen dazu, so etwa um die Herstellung von Vertrauen zwischen Konfliktparteien. Frieden schliesst man bekanntlich nicht unter Freunden, sondern zwischen Feinden. Und Frieden ist nur möglich, wenn einige Grundvoraussetzungen menschlichen Zusammenlebens innerhalb von Gesellschaften erfüllt sind: Menschenrechte, Chancengleichheit, Minderheitenrechte, Bildung für alle, Versöhnungs- und Kompromissbereitschaft etc. Frieden bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krieg, Frieden bedeutet auch das Schaffen der Voraussetzungen, dass es nicht zu Gewalt kommt. Auch daran will das Friedensnobelpreiskomitee mit seiner sehr unterschiedlichen Vergabepraxis erinnern.

Ein klares Wort aus Oslo ist fällig

Der Friedensnobelpreis bleibt, auch wenn manche Entscheidungen des Komitees schwer verständlich sind, eine wichtige Institution. Dass das Komitee vornehme Zurückhaltung übt und einmal verliehene Preise nicht aberkennt, hat gute Gründe. Doch weil die Vergabepraxis eine hochpolitische Angelegenheit ist, können sich die Verantwortlichen nicht in jedem Fall mit einem selbstverordneten absoluten Schweigegebot aus der Affäre ziehen. Eine moralische Instanz darf sich nicht hinter internen Regeln und gängiger Praxis verstecken, wenn ein besonders krasser Fall vorliegt. Ein klares Wort und ein scharfer Protest aus Oslo im Fall von Aung San Suu Kyi ist überfällig. Sonst könnte am Ende auch die Institution des Friedensnobelpreises Schaden nehmen.


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