Kommentar

Buchkritik: Wortkunst in Hülle und Fülle

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Heinrich Vogler /  Einen Schatz von rund eintausend Gedichten birgt die europäische Anthologie «Grand Tour». Es ist ein opulentes Fest der Poesie.

Phantastisch?! Ja! Gewiss, man sollte sparsam umgehen mit überschwänglichem pauschalem Lob. Wenige Kunstwerke sind ausschliesslich perfekt. Aber dieser von den Lyrikern Federico Italiano und Jan Wagner angelegte Paradiesgarten der Poesie ist ein Juwel. Und ein editorisches Meisterstück obendrein. So viel Vorschusslorbeeren dürfen, ja müssen sein.

Grenzenlose Parade

Die Herausgeber bauten ein transnationales literarisches Europa zusammen, das in der Realität gerade daran ist, aufgrund der reaktivierten zentrifugalen Kräfte wieder auseinanderzudriften. Umso eindrücklicher wird hier unter Beweis gestellt, wie Verschiedenartigkeit in der Kunst einen geografischen Raum im Gegenteil überraschend neu konstituiert. So wie es eben nur literarische Sprache kann, die Denken und Fühlen und damit Menschen miteinander verbindet. Insbesondere die Poesie als wohl universellste literarische Gattung. Die Weissrussin Valzhina Mort bringt in ihrem Gedicht «Polnische Immigranten» diese Saite zum Klingen. Am Schluss heisst es:

    wozu bist du hergekommen
    in das gebiet ihrer stadt
    die an die wand gemalt ist im restaurant
    «der geschmack europas»…

    und schon von diesem geschmack nur
    läuft dir das wasser im auge zusammen

Liest man diese Zeilen im eigentlichen Sinn, so haben sie durchaus programmatischen Charakter in Bezug auf diese imposante Verseschmiede.

Subjektive aber professionelle Auswahl

Wie soll man sich annähernd kritisch diesem heterogenen Meer der Dichtkunst annähern? Wie einen Eindruck davon vermitteln, was für ein Metaphernfeuerwerk 432 Lyrikerinnen in 49 Sprachen zünden. Darunter so «kleine» Literatursprachen wie armenisch, baltisch, bretonisch, galizisch, rätoromanisch und samisch. Da müsste man als Kritiker eigentlich die Segel streichen. Eine derartige Überfülle an facettenreicher Wortkunst unterschiedlichster gesellschaftlicher Provenienz ist nicht mit derselben Elle vermessbar wie Gedichte aus enger definiertem Rahmen. Die Herausgeber bestimmten etwa das Geburtsjahr 1968 der Autoren als (recht willkürliche) Grenze für das Auswahlkriterium «jung». Aber es lässt sich drehen und wenden wie man will: Diese Lyrikimplosion war nur möglich, weil sich die Herausgeber und ihr grosses Beraterinnennetz für die Selektion der Originalversionen auf ihren je persönlichen Qualitätsbegriff abstützten.
Auf jeden Fall ist bei diesem kühnen Unternehmen etwa jede Diskussion, darüber, welche Namen fehlen oder welche verzichtbar gewesen wären, fehl am Platz. Dieses Sprachmeer ist schlicht nicht nach handhabbaren Kategorien zu bändigen. Und noch etwas: Es ist keineswegs beliebig, welche Stimmen dieses junge Dichterinneneuropa repräsentieren, denn der Löwenanteil der Texte war zuvor schon in Buchform publiziert worden. Hat also ein gewisses qualitatives Prädikat. Schliesslich konnten manche ausgewiesenen Lyrikerinnen als Übersetzer gewonnen werden, was die Qualität der Übertragungen ins Deutsche begünstigt.

Trauer muss Europa tragen

So wie alles Erzählen im Grunde nichts als Klage ist, so ist auf dieser Reise in die Echoräume unseres Kontinents die Tonlage meist in Moll. Das Gedicht ist der Ort, wo traditionell verfehltes Leben sowie das Scheitern in der Liebe und endgültig im Tod betrauert wird. Darum kreist, wenig überraschend, der Grossteil der Poeme. Besonders fokussiert wird diese Urthematik lyrischen Sprechens bei der polnischen Fraktion der «Grand Tour». Tadeusz Dabrowski betitelt ein Gedicht keck «Fragmente einer Sprache der Liebe» nach den gleichnamigen «Discours» des postmodernen Philosophen und Semiotikers Roland Barthes.
Dabrowski treibt ein raffiniertes Spiel mit der Doppelsinnigkeit. Er verschränkt das im Gedicht Erzählte, nämlich, wie eine Ehefrau fremd geht, einerseits mit Barthes Anatomie der Liebe und andrerseits mit René Magrittes vielzitiertem Bildkommentar auf dessen surrealistischem Gemälde «Ceci n’est pas une pipe». Das lyrische Ich erwischt die Frau beim Blättern in einem Pornoheft: «Mit dem Finger auf das Bild eines nackten Mannes zeigend», fragt der Ehemann: «Was ist das? Ceci n’est pas une pipe», antwortete sie...» Als der Mann die Frau zu einem späteren Zeitpunkt mit einem nackten Mann überrascht, hakt der Ehemann nach: «Was ist das? und zeigt auf das Geschlecht des Liebhabers. «Das ist eine Pfeife, erwiderte die Frau, mit der ich immer noch schlafe, weil ich ihr nicht beweisen kann, dass sie mich betrügt.» Solche Entdeckungen, wie diese luftige Etüde über den Wahrheitsbegriff, tragen zum besonderen Reiz dieser Anthologie bei.

Naturgedichte auch mal anders

Viel Platz ist dem Naturgedicht neuen Stils überlassen. Manchmal bleibt aber jede Romantik aussen vor. Es gibt kleine Augenöffner, die für verschmitzte Lesefreude sorgen. Der Waliser Patrick McGuiness nimmt das Naturgedicht im erweiterten Sinn beim Wort. In einem kleinen Essay über den Staub in Gedichtform. Da tritt diese Form von Materie als Repräsentant des in Vergessenheit Geratenen, des Unzugänglichen in der Wohnung auf. Weiter heisst es dann über den Staub: «Er selbst steht für das, was sein Gebrauchtwerden überdauert, für uns, die wir emsig unseres überdauern.» Der Staub ist «Stoff, der alles daransetzt, nichts zu sein und dabei doch immer etwas ist» und sei es «in der Schwebe.»
Manche andere Naturidylle kippt jäh in ihr Gegenteil oder ins Politische. Dies überrascht insbesondere bei den vom Krieg leidgeplagten Autoren vom Balkan nicht. Da tun sich wieder die Abgründe der Schützengräben auf, die im vorigen Jahrhundert die europäische Lyrik markant geprägt hatten.

Original trifft auf Übersetzung

Synoptisch zur Übersetzung ist jeweils der Originaltext jedes Gedichts platziert. Im besten Fall scheint es zuweilen, wie wenn die Originalsprache aus den Zeilen der Übersetzung herausklänge. Wie wenn diese Nähe einen stillen Dialog stiftete. Keine Spur von babylonischer Sprachverwirrung herrscht hier, weil alles in den Ursprungs- und Zieltexten überprüfbar ist. Die Herausgeber und ihre lokalen Gewährsleute haben dafür gesorgt, dass dieses rauschende Poesiefest spielend transnational ist, weil eben zeitgenössische Dichtung menschliche Existenz jenseits aller physischen und mentalen Grenzen verortet. Nämlich in ihrem Kern, also in der Seele.

Nähe zur Prosa

Auf der formalen Seite fällt auf, wie oft «die junge Lyrik Europas» ihre traditionelle Form aus Zeilen und Strophen ablegt und stattdessen ins Offene der ungebundenen, oft in Blocksatz gesetzten Erzählform ausgreift. Dann wird das Gedicht zum nahen Verwandten der Prosa. Wobei die Verknappung immer noch das Hauptmerkmal dieser Spielart bleibt.

Gedicht ist starkes Medium

Keine Frage: In der Totalen betrachtet, schwankt die Qualität bei dieser erdrückenden Dichte. Aber die Spitze ist dafür sehr stark. Und je grösser ein Sprachraum desto breiter ist diese Spitze – so wie im Sport. Und natürlich ist dieser überwältigende Chor auch ein lange nachhallender Wechselgesang über unser 21. Jahrhundert, über Krieg und Frieden, über Politik und Gesellschaft in wieder unruhigeren Zeiten. Man lernt auf dieser Reise quer durch unseren Kontinent erneut darüber zu staunen, wie präzise ein Gedicht Komplexität auf den Punkt bringen kann. Jenseits der lästigen Twitterwolken in den Kanälen der schalen digitalen Beschleunigung.

Kontinuität in der Tradition

Die Lyrikerinnen sind vielleicht die letzten, die in einer vom alltäglichen Sprechen abweichenden Art die sich uns entziehende Wirklichkeit wenigstens für Augenblicke noch aufhalten können. Darum ist es so wertvoll, dass die Traditionslinie, die Hans Magnus Enzensberger mit seinem «Museum der modernen Poesie» 1960 begründet hat und die von Harald Hartung mit der Sammlung «Luftfracht», Internationale Poesie 1940 bis 1990 sowie Joachim Sartorius’ «Atlas der neuen Poesie» (1995) weitergeführt worden ist, nun eine würdige Fortsetzung gefunden hat. Das Duo Federico Italiano und Büchnerpreisträger Jan Wagner hat nun ihren Vorgängern einen weiteren Meilenstein hinzugefügt.
«Grand Tour» ist wie ein weit offenes Fenster, wodurch man den Blick über ein phantastisches, imaginäres Europa hinweg schweifen lassen kann. Nota bene auf ein Genre, das bei weitem mehr Publikum ansprechen müsste, als es die nackten Verkaufsstatistiken ausweisen. Die Leserin wird bei dieser Lektüre auf Schritt und Tritt reichlich beschenkt, nicht zuletzt, weil man auf funkelnde Trouvaillen stösst, die es in sich haben. Der grösste Lakoniker etwa auf der «Grand Tour» ist der Rumäne Constantin Virgil Banescu. Eines seiner Gedichte mündet in einen ziemlich verblüffenden Gedankenblitz, der auch als Aphorismus Karriere machen könnte:

    «der tag an dem ich sterbe
    ist ein tag im leben»

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«Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas.» Im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung herausgegeben von Federico Italiano und Jan Wagner. Carl Hanser Verlag 2019. 581 Seiten. Fr.51.90. ISBN 978-3-446-26182-2.

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