Kommentar

Haarscharf durch die Kurve – eine Buchempfehlung

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Heinrich Vogler /  Der Amerikaner Ocean Vuong ist Immigrant, jung und brillant. Sein Roman AUF ERDEN SIND WIR KURZ GRANDIOS ist mein Buch des Jahres.

Hohe Töne sind selten angebracht. Denn literarische Kunstwerke haben in der Regel, wie alles aus Menschenhand, Stärken und Schwächen zugleich. Ocean Vuongs Selbstzeugnis kann man jedoch nicht genug loben. Dieser Roman ist wie ein nicht enden wollendes, elektrisierendes Gedicht. Vergleichbar dem Flügelschlag eines Schmetterlings auf einer Blüte, der eine nicht enden wollende Kaskade funkelnden Staubs aufwirbelt. Dank einer absolut singulären Sprache, die wie im Sog einer Sinfonie vorwärtsdrängt.

Handschrift des Lyrikers

Der 1988 in Saigon geborene Vuong hat als Lyriker debütiert. Er modelliert seine Prosa, wie wenn er die Wörter zu einem Gedicht arrangierte. Das ist erst einmal einfach nur «schön». Der Autor versteht es aber darüberhinaus, diese Eleganz um eine Stufe weiter mit metaphorisch-philosophischer Durchdringung zu vertiefen. Der Roman hat die Form eines Briefs an seine vietnamesische Mutter, die während des Zweiten Indochinakriegs in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts nicht zur Schule gehen und aus diesem Grund nicht lesen und schreiben lernen konnte. Dadurch hat der Autor freiere Hand, nichts zu verschweigen. Gleichwohl ist der erzählende Junge in pausenlosem Gespräch mit seiner Mutter, die einen amerikanischen Vietnamveteranen geheiratet hatte und schliesslich mit diesem in Begleitung ihrer Mutter in den USA gelandet ist. Der Kleine erhält den Kosenamen Little Dog, was viel aussagt über die Perspektive, womit sich das Kind die fremde Welt der USA ertastet: von ganz unten. Die Mutter erfasst als Leseunkundige intuitiv, wie wichtig die Sehschule für ihr Kind in der Fremde ist:

Du hast mir einmal gesagt, dass das menschliche Auge Gottes einsamste Schöpfung ist. Wie so viel von der Welt durch die Pupille zieht und diese doch nichts davon bewahrt. Das Auge … weiss nicht einmal, dass es ein anderes gibt … Du hast die Haustür zum ersten Schneefall meines Lebens hin geöffnet und geflüstert ‹Schau›.

Im Bodensatz der amerikanischen Provinz

Der kriegstraumageschädigte, gewaltsame Vater verlässt die kleine Familie bald. Der Erzähler-Autor wächst in mausarmen Verhältnissen mit Mutter und Grossmutter am Schauplatz des Romans in der Provinzstadt Hartford, Conn. auf. Vuong legt erschütternd Zeugnis davon ab, was es heisst, im Prekariat unter den Ärmsten zu überleben. In einer viel zu kleinen Wohnung und dem viel zu geringen Lohn der Mutter als Aushilfe im Kosmetiksalon. Es reicht in der Regel nur für Junkfood. Dies verschafft dem Autor die Freiheit, nichts zu beschönigen. Dass das Kind und der Junge von den Frauen um ihn herum Schläge einsteckt und dass ihn als Teenager sein impulsiver Freund Trevor mit rohem, fast gewaltsamem Sex verführt. Trevor, sozial so abgehängt wie sein Freund, ist verantwortlich für Little Dogs Initiation in einer völlig perspektivelosen Gegenwart. Niemand nähme das Wort Zukunft in den Mund. Auch Trevor bietet sich nicht der Hauch einer Chance aus dem elterlichen Dreck herauszukommen. Da ist nur Gewalt und Alkohol. Sein kurzer Weg endet frühzeitig tödlich im letzten Heroinrausch. Der vietnamesisch-amerikanische Teenager ist stärker als sein Weggenosse, der wie eine Kerze mit an zwei zugleich brennenden Enden verglühte. Im allerletzten Moment kann sich Little Dog noch aus der tödlichen Umlaufbahn seines Trabanten ausklinken. Ja er gewinnt mit der Zeit aus dem Vorbild und der Anschauung eines Monarchfalters eine neue, geradezu verblüffende, unerwartete Leichtigkeit des Seins. Der Sohn schreibt über dieses Leitmotiv an die Mutter:

Manchmal stelle ich mir vor, dass die Monarchfalter nicht vor dem Winter fliehen, sondern vor den Napalmwolken deiner Kindheit in Vietnam. Ich stelle mir vor, wie sie unversehrt aus den sengenden Druckwellen hervorschweben, ihre winzigen schwarzroten Flügel wie Ascheflocken, die weiter durch den Himmmel gewirbelt werden … eine Familie von Schmetterlingen … , die in sauberer Luft dahinschwebt … nach so vielen Brandstürmen, feuerfest.

Daraus nährt sich die Hoffnung des Immigrantenkinds auf eine rettende Zukunft in dem abweisenden Land des bedrohlichen Vaters. Der Aufforderung der Mutter folgend, stets den Amerikaner zu spielen, sich also eine Doppelidentität zu erarbeiten.

Verlustreiche Selbstbefreiung

Vietnam wandelt sich für den Briefschreiber zum Land, (Zitat:) das sich auf meiner Zunge auflöste. Er kann zur Schule gehen, studiert Literatur am College, wird schliesslich Schriftsteller. Aus der Asche der Napalmbomben bildet sich die Tinte, womit der Sohn seine zweite Haut zur ersten umschreibt. Und zwar indem er auch seine amerikanische Geschichte erzählt, wie trotz kläglicher Voraussetzungen ein menschenwürdigeres Leben aus Verletzbarkeit und Gewalt entsteht. Der Erzähler verdankt dies seiner Mutter, die mit bewundernswerter Energie und Härte gegen sich selbst im Nagelstudio für die kleine Familie das nötige Geld als Ergänzung zur Sozialhilfe zusammenkratzt. Die Grossmutter, sozusagen das Herz der Finsternis der kleinen Familie, schafft es nicht mehr. Sie dämmert allmählich in die Schizophrenie hinüber, während ihr die Obsessionen der alten Kriegsdämonen zusetzen. Die Beisetzung ihrer Asche im heimatlichen Saigon ist die berührendste Szene des Romans. Unmittelbar bevor ihre Urne in den Boden versenkt wird, klappt Little Dog seinen Laptop auf. Er ruft über Whatsapp den amerikanischen Grossvater, ebenfalls ein Vietnamkriegsveteran, an. Der Enkel fordert den völlig überrumpelten ersten Ehemann der vietnamesischen Grossmutter auf, seine tote Ehefrau am Grab zu verabschieden. Damit schliesst sich der beklemmende Kreis zwischen einstigem Aggressor und lebenslänglichem Opfer. Mehr Symbolik geht nicht. Little Dog ist kein Märchenprinz. Der Fortgang seines künftigen amerikanischen Lebens ist offen, denn er wird seine Stigmatisierung nie loswerden. Aber die Chancen, dass er mit seiner Doppelexistenz zurecht kommen wird, sind wohl intakt. Weil er das Glück und den von seiner Mutter befeuerten Mut hatte, den Stier bei den Hörnern zu packen.

Vuong, der Sprachkünstler

Für Vuong gilt: je widerständiger der Stoff, desto präziser die Sprache. Er ist ein Meister des Vergleichs, des übertragenen Sinns sowie der vollendeten Metaphorik, weil seine phantastischen Sprachschöpfungen immer völlig aufgehen in der eigentlichen Bedeutung:

Irgendwie vernähte die Arbeit (auf einer Tabakfarm) einen Bruch in mir. Die Blätter flattern und landen leise tickend auf der Strasse. … Der Reis fiel von ihren Lippen wie abgesplittertes Licht.

In dieser eleganten Leichtigkeit lässt Ocean Vuong die Sprache triumphieren. Weit hinausreichend über all das himmelschreiende Elend, welches er sich vom Leib schreibt. Der vietnamesisch-amerikanische Ocean Vuong gesellt sich damit neben den Franzosen Edouard Louis. Dieser hat sich 2017 mit dem Roman Das Ende von Louis mit grösster Stilsicherheit ebenfalls schonungslos seine Kindheit im homophoben Milieu der prekären französischen Provinz vom Leib geschrieben. Vuong liefert ebenso den Beweis, dass Literatur heute noch das sein kann, was der inzwischen etwas verblasste und ausgeleierte Begriff emanzipatorisch einst bezeichnete: Radikal in der Sache und formvollendet zugleich.
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Ocean Vuong: «Auf Erden sind wir kurz grandios». Roman. Deutsch von Anne-Kristin Mittag. Hanser Verlag. München 2019 (ISBN978-3-446-26389-5), 22.00 Euro. Bei Buchhaus.ch für 32.90 CHF.

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