Kommentar

kontertext: Wer gut schläft und wer nicht

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Adam Szymczyk, Kurator der documenta, denkt über die Welt und die Kunst von heute nach. Die NZZ vergisst journalistisches Handwerk.

«Documenta: Weltverbesserer missbrauchen die Kunstausstellung für Propaganda», «Die Documenta braucht niemand» – in diesem Ton, der sich in Untertiteln noch fortsetzt, kündigt die NZZ vom 9.8.17 einen Artikel an. Man könnte solche Überschriften als pubertäre Rüpeleien abtun. Liest man aber den angekündigten Artikel, der immerhin von einem Redaktor des Blattes stammt, so lohnt es sich doch zu fragen: Woher kommt die grosse Wut des Philipp Meier? Was hat den Mann derart aus der Fassung gebracht, dass er sein journalistisches Handwerk vergisst?
Die Titel legen nahe, dass er sich über die Ausstellung geärgert hat. Aber eine Ausstellungskritik findet nicht statt. Die documenta 14 wird nicht wirklich geschildert, kein einziges Ausstellungsobjekt wird konkret erwähnt, kein Künstler vorgestellt. Die Rede ist vom Katalog der Ausstellung. Aber Aufbau, Autoren, Artikel bleiben unerwähnt. Es ist ein einziger, allerdings programmatischer Artikel von Adam Szymczyk, dem Kurator der diesjährigen documenta, der unseren Mann auf die Palme treibt. Allerdings wird auch dieser Artikel nicht wirklich vorgestellt.
Wenn es ein Kriterium für gute Information ist, dass sie dem Leser ermöglicht, sich auch eine andere Meinung zu bilden als die des schreibenden Journalisten, so muss Herr Meier auf der Journalistenschule nachsitzen. Aus dem Zusammenhang gerissene Sprachfetzen, die er für Reizwörter hält, und viel Meinung – mehr ist da nicht. Immerhin macht Meiers überdimensionierte Wut neugierig auf Szymczyks Artikel, und es lohnt sich in der Tat, diesen zu lesen. Kommt hinzu, dass man beim Vergleich Meier gegen Szymczyk ein aktuelles politisches Lehrstück erleben kann. Obwohl Generationsgenossen, leben sie in verschiedenen Welten. Zwischen dem behäbig bürgerlichen, selbstsicheren Kunstverständnis an der Falkenstrasse und den erregten, internationalisierten und radikalisierten Kunstpraktiken im Zeichen neuer, kritischer Theorien gibt es, schon sprachlich, kaum Gemeinsamkeiten.

DIE Kunst
Kunst kann dies und jenes, sagt Meier, und Kunst kann anderes nicht. Meier ist der letzte Mann, der noch genau weiss, was «Kunst», «die» Kunst, ist und «kann». Reflexion auf die Wirkung von Kunst oder auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen sie jeweilen steht, wehrt er ab. Er mobilisiert dabei primitive Abneigungen gegen Pädagogik und hantiert mit auf die Spitze getriebenen Vorwürfen: Wer sich für die emanzipatorische Dimension der Kunst interessiert, der will uns erziehen, sagt Meier, der legt die Kunst in Ketten, der glaubt an den Mythos, Kunst mache frei, der stilisiert die Kunst zum «Allheilmittel».
Wes Geistes diese Allgemeinplätze sind, zeigt Meiers Rückgriff auf die Geschichte der documenta. Schon die erste documenta von 1955 habe sich, vermerkt er rügend, eine volkserzieherische Aufgabe gestellt: Aus der Bevölkerung des Dritten Reiches sollten Bürger eines neuen Deutschlands werden. Meier zieht sogar die Parallele zur Indienstnahme der Kunst zu Propagandazwecken im damaligen Ostblock. Er knüpft da an eine dustere Tradition an. Es waren die verstockten ehemaligen Nazis und Mitläufer des NS-Regimes, die gegen die Demokratisierungsbemühungen der Westalliierten den Vorwurf der Umerziehung erhoben.

Adam Sczymczyk bemüht sich, das Statische der Kunst und der Kunstausstellungen zu verflüssigen. Er löst die Einheit von Raum, Zeit und Handlung der Ausstellung so weit wie möglich auf. Er erschüttert die Stabilität, Singularität und Kohärenz der documenta. Das Ereignis findet an zwei Orten statt, in Athen und Kassel. Alle Künstler werden zweimal begrüsst. Manche Objekte gibt es an beiden Orten zu sehen. Die zeitlichen Dimensionen sind unklar: Die Zeiträume der Athener und der Kasseler Ausstellung überlappen sich teilweise, es gibt Veranstaltungen vor und nach Ende der documenta, die nicht nur «vor Ort», sondern auch im Fernsehen, im Radio und im Netz stattfinden.
Gesucht und ausprobiert werden Formate, die vielen Menschen an vielen Orten das Mitmachen und Mitdenken ermöglichen sollen – und zwar ohne Angst und Kontrolle. Szymczyk träumt von einer Ausstellung, die allen gehört, die sich an ihr beteiligen – auch und gerade den Besucher_innen. Er nennt das ein «Parlament der Körper». Er arbeitet an einer Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Politik, zwischen Künstler und Kunstbetrachter.

Sczymczyk sieht die Kunst als eine gesellschaftliche Praxis unter vielen, und er träumt davon, dass «unsere Arbeit», die Arbeit von ihm und seinem Team, eine Bedeutung hat, und zwar eine reale: «in dieser Welt agieren», wirkungsvoll, das möchte er. «Wir sind von der Hoffnung getragen, dass die Kunst nicht bloss die bestehenden sozialen Beziehungen reproduziert, sondern einen Raum schaffen und besetzen kann, Diskurse ermöglichen kann, die über das hinausgehen, was allen bekannt ist, und darauf hinwirken kann, den vorhersehbaren, düsteren Gang der gegenwärtigen politischen und sozialen globalen Ereignisse infrage zu stellen, die uns den Schlaf rauben und uns lähmen.» Vielleicht ist das der Hauptunterschied: Von Meier gewinnt man aufgrund seiner Schreibe den Eindruck, dass er gut schläft, von Szymczyk nicht.

Angriff auf Identität
Wenn Szymczyk vom Zustand unserer Welt spricht, so hört Meier «lauter Worthülsen aus dem linken Politjargon». Die klassisch linken Analysen des Neoliberalismus erwähnt Szymczyk aber nur kurz. Viel stärker beruft er sich auf postkoloniales, feministisches und queeres Denken. Er zitiert Souleymane Bachir Diagnes, Gayatri Chakravorty Spivak, Achille Mbembe: Denker und eine Denkerin, die in der NZZ nicht eben den Ton bestimmen.
Szymczyk beschreibt die herrschende Ordnung als neokolonial, neoliberal, patriarchal und heteronormativ. «Verlernen» ist ihm ein wichtiger Begriff: Er findet, wir Westeuropäer steckten tief in den eurozentristisch-überheblichen Denk- und Lebensweisen des reichen Mannes. Und er glaubt, die Notwendigkeit, den eurozentristischen Blick zu überdenken, sei durchaus in der Tradtion der letzten vier documenta-Ausstellungen angelegt. Seine Entscheidung, die documenta 14 in Kassel und in Athen stattfinden zu lassen, erscheint so als konsequente Weiterentwicklung – war aber, als er seine Arbeit begann, undenkbar.
Nicht zufällig mobilisierte die CDU mit dem Slogan: «Damit die documenta in Kassel bleibt». Die documenta und Kassel gehörten zusammen. Was Szymczyk hier antastete, das war die Identität der Ausstellung und der Stadt. Er spricht vom geteilten Selbst und sagt programmatisch: «Die alte Welt basiert auf Begriffen der Zugehörigkeit, der Identität und der Verwurzelung. Unsere stets neue Welt wird eine Welt der radikalen Subjektivität sein.» Aussagen wie diese sind keine schlechte Basis, um über die Welt und die Kunst von heute nachzudenken. Dass Szymczyk in seinem programmatischen Artikel Griechenland als Opfer der Krise gar sehr idealisiert und den Mythos vom Süden überzieht, ist allerdings auch wahr.

Freiheit der Kunst?
Philipp Meier lehnt «Thesen-Ausstellungen» grundsätzlich ab. Er fordert dagegen «mit dem Mut zum Fragmentarischen den schwierigen Versuch simpler Übersichtsschauen zu wagen.» Da haben wir’s. Keine Grenzüberschreitungen. Politik und Kunstausstellung säuberlich getrennt. Keine Angriffe auf das Bestehende. Kurator, bleib bei deinen Leisten, schnall dir den Bauchladen um und biete an. Das ist Marktdenken.
Genau hier widerspricht Szymczyk energisch. Ihm passt diese Arbeitsteilung nicht. Ihm genügt die Freiheit, die der Kunst in unserer Gesellschaft traditionellerweise gewährt wird, nicht. Ja, er hält sie sogar für problematisch, denn es ist die Freiheit, mitzumachen an einem Zusammenhang, den er – im Unterschied zu Philipp Meier – für desaströs hält. Szynczyk will mehr und eine andere Freiheit für die Kunst und für die Menschen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Felix Schneider, geboren 1948 in Basel. Studium Deutsch, Französisch, Geschichte. Von Beruf Lehrer im Zweiten Bildungsweg und Journalist, zuletzt Redaktor bei SRF 2 Kultur. Hat die längste Zeit in Frankfurt am Main gelebt, ist ein halber «Schwob».

  • Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Anna Joss, Mathias Knauer, Guy Krneta, Corina Lanfranchi, Johanna Lier, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Ariane Tanner, Heini Vogler, Rudolf Walther.

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2 Meinungen

  • am 19.08.2017 um 09:26 Uhr
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    Vielen Dank für diesen differenzierten Artikel! Wer die documenta gesehen hat, weiss, wie oberflächlich und einseitig Philipp Meiers Artikel in der NZZ waren. Man muss Zweifel haben, ob er die Ausstellung überhaupt besuchte. Wenn er es tat, so hat er offensichtlich rasch vor der provozierenden Vielfalt des Präsentierten kapituliert.

  • am 20.08.2017 um 20:58 Uhr
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    Ich bezweifle, dass Herr Schneider die Documenta 14 besucht hat. Müller liegt richtig, wenn er darauf verzichtet, Künstler und Werke vorzustellen. Der Gesamteindruck, der einem entgegenschlägt ist verstörend und vernichtet jegliche erwähnungswerten künstlerischen Leistungen. Die Documenta 14 haben wir vorzeitig verlassen. Ein Spaziergang zum Herkules hoch über der Willhelmshöhe hat uns für den Documenta Flopp entschädigt. Wenn Szymcyk› «Ansprüche an die Kunst» in der Darstellung von Gewalt, Elend und politischen Verbrechen vergangener Zeiten gipfelt, ist das Ausdruch seiner Biographie. Wenn Szymcyk die Information für den ortsfremden Besucher so gestaltet, dass sich dieser mehr als veräppelt vorkommt, steigt der Verdacht auf Arroganz auf. Anspruchsvolle künstlerische Leistungen, die eine eingehende Würdigung verdienen leiden unter dem Gesammteindruck. Müller wurde wohl von diesem Gesammteindruck getroffen.

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