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Fällander Tagebuch 19 © zvg

Macht macht beliebt oder The winner takes it all

Jürgmeier /  Donald Trump über dem Greifensee. Lara Gut im Dunkeln. Monika Fasnacht heimlich geheiratet. Nazis vertreiben in gemütlichen Zeiten.

25. Januar 2018

S. kommt von einem Spaziergang an den Greifensee zurück. Irgendwie verstörtverängstigtschockiert. Eben gerade seien ihr der Trump & Co. im Tiefflug über den Kopf gedonnert. Obwohl sie ihm nicht in die Augen gesehen, ist sie sicher: Das war Trump himself. Nicht die sicherheitsstrategische Ablenkungsformation mit Double. «Eine Machtdemonstration war das.» Für Kormorane, Haubentaucher und verstockte Enten. Die «den Präsidenten» bei ihrer Futtersuche nicht zur Kenntnis genommen haben werden. Im Gegensatz zur Davoser «Weltelite», die den eben noch aus der Ferne verspotteten und angefeindeten Mann aus dem wilden Westen hofiert und um ein Selfie mit dem Stargast bettelt. Macht macht beliebt. Würden sie den Bückling auch vor ErdoganDutertePutin machen? Hätten sie auch mit FrancoStalinHitler angestossen? Was braucht es, damit so einem (oder einer) mit Macht – der für sich in Anspruch nimmt, vielleicht sogar zu Recht, den «Willen seines Volkes» zu vertreten – HandschlagGesprächEinladung verweigert und international die kalte Schulter gezeigt, der Prozess gemacht wird?

20. Februar 2018

Ich sehe mir die Olympischen Winterspiele an. Wann immer es geht. Bei diesen (Un-)Zeiten in Pyeongchang. Wie immer seit 1964. 1963 kauften auch meine Eltern endlich einen Fernseher. Das Erste, was ich Schwarz auf Weiss aus der Stubenecke flimmern sah, war die Ermordung John F. Kennedys. Die roten Blutspritzer (schwarz) auf dem rosafarbenen Kleid von Jackie Kennedy (hellgrau). Einen Tag später erfuhren wir auf der Strasse, das Ohr aufgeregt an einem dieser neuen Transistorradios, von der Ermordung des Mörders. Die heute noch Anlass für kreativste Spekulationen und Verfilmungen ist.

Nicht bestritten ist, dass Jos Minsch und Willy Favre in Innsbruck 1964 die Besten der Schweizer Delegation waren. Beide wurden Vierte und gingen schnell vergessen. Ich bin eigentlich dagegen, dass Kinder und Erwachsene, in der Schule zum Beispiel, vermessen, bewertet und mit anderen verglichen werden. Damit sie befreit lernen und leben können. Warum schaue ich mir trotzdem immer wieder diese sportlichen Wettkämpfe an? Bei denen «Sieger-Gen» und «Killer-Instinkt» gefragt sind? Höre den Reporterinnen zu, wenn sie fragen: «Wie fühlen Sie sich jetzt?» Nachdem eine beim letzten Sprung im Schnee gelandet, einer schon vor dem ersten Tor aus den Bindungen gekippt ist, um Sekundenbruchteile den Sieg oder das Podest verpasst, in jeder Kurve fünf Hunderstel verloren hat und sich auch nach dem sechsten Rennen der Saison nicht erklären kann, warum er langsamer ist als alle anderen, warum sie die Trainingsleistungen nichts aufs Eis bringt. «Was nehmen Sie mit?» Wird so einer mit post-kompetitiver Depression gefragt, der sich knapp an den Skis in die Kamera halten kann. Bis der Journalist sie endlich mit einem gnädigen «Kopf hoch» in die Massage entlässt. Dopingkontrolle – nicht nötig.

Sport ist der brutale Spiegel unserer Gesellschaft. Die im Dunkeln sieht man nicht. The winner takes it all. Dunkel wird’s spätestens ab Platz Vier. Und manchmal bekommen auch die Erfolgsverwöhnten Zweifel. Zum Beispiel Lara Gut. Die im Fernen Osten nicht zum ersten Mal um Hundertstel geschlagen, zum vierten Mal an «grossen Wettkämpfen» Vierte wird. «Ich habe alles gegeben, all meine Energie reingesteckt, und dann passiert so etwas.» Wird sie in der Sonntagszeitung vom 25. Februar zitiert werden. «Ich frage mich: Ist das richtig?» Als würde sie immer noch daran glauben, dass der gerechte Storch die Medaillen verteilt.

Siegerinnen und Sieger sagen gerne: Es kommt alles zurück. Wenn es sein muss, muss es sein. Wenn nicht, dann nicht. Gleich Schicksalsgläubigen, die über den Tod reden. (Der ist uns allerdings sicherer als der Sieg.) Sie meinen: Irgendwann wird die Schinderei belohnt. Wird das Pech durch den Sieg gelöscht. Irgendwann gewinnen die Geschlagenen. Zum Beispiel Dominique Gisin, die nach vielen Verletzungen und Stürzen im falschen Moment ein Jahr vor ihrem Rücktritt Olympiasiegerin wurde. Zusammen mit Tina Maze. Auf die Hundertstelsekunde. Alle gönnen ihr den Sieg. Heisst es dann. Hätten sie ihn anderen nicht gegönnt? Sein Sieg ist ein verdienter. Sind andere Siege unverdient? Die Formulierungen sind verräterisch. Insgeheim ahnen alle: Keine Niederlage ist eine verdiente. Kein Sieg ein gerechter. Auch andere, viele hätten ihn verdient. Und die meisten werden ihn nie bekommen. Nicht im Sport. Nicht im richtigen Leben. The winner takes it all.

26. Februar 2018

Wieder einmal vermeldet eine Zeitung (der Tagesanzeiger), zwei Prominente (Kategorie Cervelat oder Rindsfilet) hätten «heimlich geheiratet». Diesmal «Schauspieler Daniel Brühl und die Psychologin Felicitas Rombold». «Heimlich» zu heiraten ist beliebt und verbreitet. Schon gemacht haben es Ricky Martin und Jwan Yosef (Schweizer Illustrierte), Daniela Krall und Elvis Costello (Frankfurter Allgemeine), Myley Cyrus und Liam Hemsworth (Grazia), Désirée Nosbusch und ein Kameramann (Hamburger Morgenpost), Miranda Kerr und Evan Spiegel (woman), damals sogar Steffi Graf und Andre Agassi (Spiegel). Auch Monika Fasnacht und ihr Kantonspolizist Reto werden es tun (Blick, 8.3.2018).

«Heimlich geheiratet.» Als hätten Kinder – deren Eltern immer über alles mit ihnen reden wollten – einen Bund fürs Leben geschlossen, ohne Papa und Mama etwas zu verraten. Kein halbwegs bekannter Schlagersänger, keine Fussballerin der Champions League darf das Meinsolldeinsein schwören, ohne die People-Redaktionen von Blick und Gala, Frankfurter Allgemeine oder Spiegel zu fragen, ob sie die Trauzeugin oder den Trauzeugen machen würden.

Am 18. März 2018 werden SRF, 20 Minuten, Bund, Schweizer Illustrierte u.a. melden, Lara Gut habe «auf Facebook ihre Liebe zu Nati-Fussballer Valon Behrami gestanden». Als hätte sie etwas verbrochen. Als hätte ihr jemand die Daumenschrauben angelegt. Müssen Prominente neuerdings die Beichte bei Blick & Co. ablegen? Ein Bildchen fürs Goldene Blatt, und alle Sünden sind vergeben.

5. März 2018

«Muss die Schweiz eigene Krimiserien machen?» Fragt SVP-Chef Albert Rösti in der Präsident*innenrunde am Abstimmungssonntag vom 4. März. Und meint es rhetorisch. Er will nach grandios verlorener Billag-Abstimmung wenigstens bestimmen, wie es mit der SRG weitergehen soll. Mit Eurocop statt Bestatter Müller. Soviel Vaterlandsverrat hätte ich dem röstigen Kämpfer gegen fremde Richter gar nicht zugetraut.

7. März 2018

Vor einer Woche nur ein leises Erschrecken im Vorübergehen. S. war schon ein paar Meter weiter. Die Enkel und ihre Mutter warteten. Diesmal stoppe ich, zücke die Handykamera, halte fest, was da an einem Winterthurer Laternenpfahl klebt. «Nazis vertreiben ist wie Müll rausbringen. Nervig, aber irgendjemand muss es ja tun.» Die Antifaschistische Koordination Winterthur nimmt das «Nervige» auf sich. Wohin vertreibt sie «die Nazis»? Womit? Und vor allem – wer sind, heute, «die Nazis»? «Es ist keine Weltanschauungsfrage, dass man die Läuse entfernt. Das ist eine Reinlichkeitsangelegenheit. Genauso ist der Antisemitismus für uns keine Weltanschauungsfrage gewesen, sondern eine Reinlichkeitsangelegenheit. Wir haben nur noch 20’000 Läuse, dann ist es vorbei damit in ganz Deutschland.» Erklärte Heinrich Himmler 1943 in einer seiner nicht ganz so geheimen Geheimreden vor allen Offizieren der SS. Wie werden wir jene nennen, die, als tatsächliche Wiedergänger, nationalsozialistische «Entsorgungspraktiken» wieder aufnehmen? Oder imitiert die Antifaschistische Koordination Winterthur nur das Provokationsritual von AfD, SVP & Co.? Alles nicht so gemeint? Wer sich im allzu menschlichen sowie laufend ergänzten Wörterbuch des Unmenschen bedient, darf sich nicht wundern, wenn er oder sie eines Tages im Spiegel die faschistische Fratze zu sehen bekommt.

20. März 2018

Was heute so alles als mutig gilt: Für den Vierfachmörder von Rupperswil lebenslange Verwahrung zu verlangen. Sich zur AfD, in der Schweiz zur SVP zu bekennen. «Mohrenköpfe» zu bestellen. Die «Juden von der Wallstreet» zu kritisieren. Der «feministischen Sprachpolizei» zu widersprechen. Zu reden, wie einem oder einer der Schnabel gewachsen. Putin zu verstehen. Trump zu verspotten. Die Schweizerfahne neben die Geranien zu hängen. Mit einem Offroader vorzufahren. Mitglied in einem Schützenverein zu werden. Gestopfte Gänseleber zu bestellen. Ein Burkaverbot zu fordern. Eine Veranstaltung mit Daniele Ganser zu besuchen. «Wir sind das Volk» zu rufen. «Schluss mit Willkommens- und Erinnerungskultur» zu schreien. Rechte Redner niederzubrüllen. «Kampf den Nazis» an Wände zu sprayen. Tapfer. 2018.

So hat jede und jeder, auch in der Schweiz, seinen eigenen Mut. Nur dem Chef, der selten eine Chefin ist, offen zu widersprechen oder sich zu widersetzen – das wagt selten einer oder eine. Nicht in diesen gemütlichen Zeiten. Aber wenn er (oder sie) Menschenfeindliches verlangen sollte, dann, ja, dann natürlich sofort.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Jrgmeier_200

Jürgmeiers Fällander Tagebuch

Im Tagebuch spiegeln sich das Private und das Öffentliche, wird das Subjekt schreibend Teil der Welt.

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