Sprachlupe: Grundversorger – ambulant und bernmobil

Daniel Goldstein /  Eine Tramfahrt, die ist lustig – sogar Grammatiklektionen sind beim Berner Bahnhof inbegriffen und laden zum Weiterspinnen ein.

Ein randloser Brillenträger war er – das konnten alle im Tram sehen. Ob der gepflegte Mittdreissiger, der da mit dem Berner «Nünitram» Monbijou-aufwärts fuhr, auch ein möblierter Zimmerherr war, liess sich nicht erraten; die Gattung ist ja eher selten geworden. Nach seinem Köfferchen zu schliessen, das an einen guten alten Hausarzt erinnerte, mochte er gar einer der «ambulanten Grundversorger» sein, von denen Medizinexperten zuweilen reden. Gemeint sind damit freilich nicht Gesundheitsdiener, die ihrem Handwerk ambulant nachgehen, also umherwandelnd.
Vielmehr kümmert sich so ein neumodischer Versorger – es kann auch eine Institution sein – um Leute, die sich ambulant behandeln lassen und dann weiterwandeln können, statt stationär gepflegt zu werden. Von ihnen aus gesehen ist die Versorgung ambulant, nicht aber der Versorger. Der Brillenträger, der Zimmerherr, der Grundversorger – sie alle sind Opfer einer sprachlichen Erscheinung geworden, die mit dem Sack und dem Esel zu tun hat: Man schlägt mit dem Adjektiv das eine und meint das andere. Nicht immer ist der Fehlschlag so offensichtlich wie bei der Brille, deren Randlosigkeit dem Träger verpasst wird, oder beim möblierten Herrn.
Kein Mensch ist illegal

Eine besonders perfide Fehlkonstruktion, an die sich viele leider schon gewöhnt haben, ist «illegaler Einwanderer». Ist etwa der Herr im Tram auch das? Sicher nicht, illegal ist höchstens seine Einwanderung; er wäre somit ein illegal Eingewanderter. Aber illegale Ausländer gibt es nicht, denn: «Kein Mensch ist illegal!» Der Spruch, einst an Wände gesprayt, ist vollauf berechtigt, keineswegs illegal – auch wenn die Sprayerei es je nach Ort sein könnte. Illegal ist der Mann demnach nicht, aber ambulant durchaus: Er bewegt sich ja auf bernmobile Art. Falls er als ambulanter Versorger arbeitet, tut er dies wahrscheinlich irgendwo stationär. Wer ihn zur Behandlung aufsucht, zuckt vielleicht zusammen – jedoch kaum aus sprachlichen Gründen.

Grund zu sprachlichem Erschauern gab’s indessen im Tram, als es sich dem Hirschengraben näherte: «Umsteigemöglichkeit auf die Fernverkehrs- und S-Bahn-Züge», ertönte dabei aus den Lautsprechern, wie seit Jahren üblich. Tatsächlich zuckte unser Brillenträger zusammen und stieg eilends aus. Er liess sich nicht anmerken, ob er die «Möglichkeit auf die Züge» wahrnehmen wollte oder vor dieser sprachlichen Zumutung die Flucht ergriff.

Auf den Ambi umsteigen

Gewiss: Alle verstanden, dass Bernmobil mit der Ansage die Möglichkeit meinte, auf Züge umzusteigen – aber warum sagte unser Verkehrsversorger dann nicht just das? Gelernt hat er es nicht, trotz früherer publizistischer Kritik. Stattdessen erklingt jetzt ausser «Hirschengraben» kein weiterer Hinweis mehr. Erst beim Bahnhof heisst es nach alter sprachlicher Unsitte: «Umsteigemöglichkeit in alle Richtungen». Dabei wäre «Umsteigen in alle Richtungen möglich» nicht nur besser, sondern sogar noch kürzer.
Vielleicht brachte die Verheissung des Fernverkehrs den Brillenträger ins randlose Träumen; immerhin waren wir im «Nünitram», das – zumindest bei Mani Matter – fliegen kann. Und so beschloss er womöglich, mit seinem Köfferchen bis auf die Transsibirische Eisenbahn umzusteigen. Gut zu wissen dabei: In Russland unterscheidet man zwischen (richtigen) Zügen und der «Elektritschka», dem «Stromerchen», das Gebietchen von der Grösse der Schweiz erschliesst, wenn auch weniger komfortabel als unsere S-Bahn. Höchste Zeit, dass wir dieser ebenfalls einen Kosenamen gönnen. Da sie ein alltägliches Bedürfnis beweglich erfüllt, wäre «ambulanter Grundversorger» gar nicht so unpassend, oder kurz: Ambi.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlupe»
— darin: «Plastischer Chirurg» und Konsorten


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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2 Meinungen

  • am 20.04.2019 um 09:57 Uhr
    Permalink

    Wenn es nur kurz und leicht verständlich ist: Auf dem Ohio Freeway sah ich einmal das dringende Warnschild: «Drive slow when wet!"

  • am 20.04.2019 um 14:05 Uhr
    Permalink

    Tröstlich Herr Goldstein, dass Sie das alles noch merken. Aber sind Sie sicher, dass Präzision im sprachlichen Ausdruck noch ein ernstes Anliegen ist? Für Fake braucht es doch die sprachliche Unschärfe, damit man immer sagen kann: «das habe ich nicht so gemeint». Für Politiker unverzichtbar. Optimist, wer glaubt, die wollen Sack und Esel auseinanderhalten.

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