Sprachlupe: Wort ausgewischt, Ding und Sinn noch da

Daniel Goldstein /  Zensur? Ausgerechnet im Museum? Darüber könnte man sich in Bern wundern, wenn man die Einladung, Wörter zu tilgen, wörtlich nähme.

«Rentnerschwemme» war schon weg, als ich kam, aber «Überalterung» stand noch da, sogar doppelt. So wusste ich schnell, was zu tun war, als ich kürzlich im Kunstmuseum Bern die Ausstellung «République Géniale» besuchte, mit dem Raum «a word a day to be wiped away». Von 200 Wörtern, seit Mitte August an einer grossen weissen Wandtafel zur Löschung freigegeben, war noch knapp die Hälfte unversehrt. Der Rest war eifriger mit den bereitliegenden Lappen bearbeitet worden, als es dem Motto «ein Wort pro Tag» entspräche. Wird die Aufsicht – wie vorgeschrieben – vor dem Wischen gefragt, so kann sie für Masshalten sorgen und auch dafür, dass das missliebige Wort noch knapp lesbar bleibt.

Die «Überalterung» aber – als einziges Wort zweimal aufgeführt, wohl aus Versehen – hatte den Ansturm völlig heil überstanden. Der Ausdruck ist eben so alltäglich geworden, dass er nicht den gleichen Empörungswert hat wie die früh getilgte «Überfremdung». Wer eines dieser Wörter in den Mund nimmt und davor ein bisschen nachgedacht hat, zeigt mit der Vorsilbe «über» an, dass hier das für zulässig gehaltene Mass überschritten sei. Wenn in einer Juniorensektion die meisten Mitglieder das reglementarische Juniorenalter überschritten haben, dann ist sie wirklich überaltert. Mit «Überalterung» aber ist meistens dasselbe gemeint wie mit «Rentnerschwemme»; hinter diesem Wort war gewiss die Menschenverachtung erkannt und mit dem Löschlappen bestraft worden.

Sack oder Esel gemeint?

Allerdings kann man nicht wissen, was hinter einer Löschung steckt: Statt dem Wort kann auch die Sache gemeint sein, die man wie mit einer Voodoo-Zeremonie bannen will. «Atombombe» wird wohl in diesem Sinn weggewischt worden sein, ebenso «Sklaverei» und «Menschenhandel» oder auch «Regierung» und «Nationalstaat». Da ist nicht anzunehmen, die Tilgung habe nur dem Wort gegolten und das, was es bedeute, sei seinen Gegnern unter anderem Namen durchaus genehm. Was aber ist mit «Priorisierung», «ergebnisoffen» oder «zielgruppenorientiert»? Dass diese Wörter überhaupt auf die Liste kamen und prompt der Löschung anheimfielen, verdanken sie vermutlich ihrem Ursprung im Organisationsentwicklungsberatungsdeutsch.
Verantwortlich für den Ausstellungsraum zeichnet das Künstlerduo Relax (Marie-Antoinette Chiarenza und Daniel Hauser); Vorschläge haben sie im Freundes- und im Museumskreis sowie bei Institutionen der Pflege und der Ausländerberatung gesammelt. Mit anderen Gewährsleuten (und immer unter dem englischen Titel) waren auch schon in Zürich, in der Türkei und in Georgien Wörter zum Löschen eingefangen und dem Publikum ausgeliefert worden. Die Berner Auswahl glänzt mit «häfele» und «säubele», beide kurzlebig. Bei meinem Besuch waren dagegen «füttern» und «Windeln» noch nicht mit dem Putztuch in Berührung gekommen, ebenso wenig «Alterserscheinung» und «Greise».

Via Sprache die Welt verbessern?

So amüsant oder der Triebabfuhr dienlich es sein kann, einem verhassten Wort (oder eben der Sache dahinter) eine Abreibung zu verschaffen – man darf nicht der Illusion verfallen, die Welt sei schon verbessert, wenn Wörter des Anstosses nicht mehr im Umlauf sind. Steckt böser Wille hinter ihnen, findet er neue Ausdrücke. Und statt schlichtem Ersatz, etwa «Alterung» ohne «Über-», wird eher ein neues Ärgernis Mode werden, vielleicht «Bejahrungsaufschwung». Immerhin könnte so ein Murks eine Weile zum Nachdenken anregen, bis er entweder normal wird oder aber der nächsten Löschaktion zum Opfer fällt.

Und doch: Wenn Sie die Ausstellung besuchen (bis 11. November), die Wischung des Tages noch nicht stattgefunden hat und das zweite «Überalterung» noch an der Wand prangt: Weg damit! Sie zeigen sich so als guter Mensch und sollten sich nicht als «Gutmensch» verächtlich machen lassen. Dieses Wort steht seit meiner Visite bei den Vorschlägen, die man für künftige Löschangebote hinterlassen kann.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlupe»

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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