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Solidaritätskundgebung in Zürich für die rund 12'000 Asylsuchenden aus Ungarn im Jahr 1956 © Schweizer Sozialarchiv

Heute «unechte» Flüchtlinge waren früher «echte»

Beat Allenbach /  Die meisten Asylsuchenden seien «unechte» Flüchtlinge, heisst es oft. Diese Behauptung sei falsch, sagt Professor Etienne Piguet.

Zum Anlass des 50. Jahrestages der Massenflucht aus dem von sowjetischen Truppen besetzten Ungarn sagte die damalige Bundesrätin Elisabeth Kopp im Jahr 2006, dass die Flüchtlinge nicht allein deshalb grosszügig von den Schweizerinnen und Schweizern aufgenommen worden seien, weil sie einem bei uns unbeliebten kommunistischen Regime entflohen, sondern weil sie Fluchtgründe hatten, die auch im geltenden Asylgesetz enthalten seien. Diese Aussage der Bundesrätin überzeugt den Neuenburger Geographie-Professor Etienne Piguet nicht. Piguet beschäftigt sich insbesondere mit Flüchtlingen und Migranten und ist Co-Autor der Zeitschrift zu Integration und Migration «terra cognita».

Viele Flüchtlinge aus Ungarn und der ehemaligen Tschechoslowakei waren nicht eigentlich verfolgt

Zusammen mit einem aus Ungarn stammenden Kollegen hat Piguet (Bild) die Dokumente aus jener Epoche erforscht und festgestellt, dass die grosse Mehrheit der rund 12’000 Männer und Frauen, die 1956/57 von der Schweiz aufgenommen wurden, ihr Land verlassen hatten, weil dort Gewalt sowie Unfreiheit herrschte und die Grenze zu Österreich längere Zeit offen war. Nur wenige Personen – so Piguet – fürchteten, aus politischen oder religiösen Gründen oder wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse oder einer sozialen Gruppe verfolgt zu sein, wie es die internationale Flüchtlingskonvention aus dem Jahr 1951 vorgesehen hat; diese Fluchtgründe sind auch im heutigen Asylgesetz ausschlaggebend.
Die gleichen Fluchtgründe machten auch die rund 15’000 Menschen geltend, die im Sommer 1968 nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Paktes in die Schweiz flüchteten und hier aufgenommen wurden. Bloss eine kleine Minderheit glaubte vom kommunistischen Regime verfolgt zu sein. Den vielen Männern und Frauen, welche aus Ungarn und der Tschechoslowakei geflüchtet waren, wurde in unserem Land grosse Sympathie entgegengebracht und es gab zahlreiche Sammelaktionen zur Unterstützung der Geflüchteten. Zudem waren viele dieser Menschen Studenten oder gut ausgebildete Fachleute; sie waren deshalb damals nützlich für die schweizerische Wirtschaft, die bis zur Erdölkrise Mitte der 1970er-Jahre sich in raschem Wachstum befand.

Asylgesetz wurde seit 1981 dauernd verschärft

Inzwischen ist das 1981 in Kraft gesetzte Asylgesetz, das eine unbefriedigende Bundeskompetenz ersetzte, über zehnmal verändert und verschärft worden, und es wird auch strenger angewendet als früher. Überdies sind heute viele Asylsuchende nicht gut ausgebildet, sie sind viel weniger gefragt als Arbeitskräfte, auch weil dank des Abkommens über die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union (EU) die Unternehmer über eine grosse Auswahl an hochqualifizierten Personen verfügen können. Ein bedeutender Teil der einheimischen Bevölkerung hat heute den Eindruck, es gebe zu viele Asylbewerber; viele sind auch skeptisch, da es nicht für alle Arbeit gebe.


Asylanträge von 1955 bis 2018 in der Schweiz. Quelle: Staatssekretariat für Migration und historische Schätzungen von Etienne Piguet. Grössere Auflösung der Grafik hier.

Wer Flüchtlinge persönlich kennt, wird oft helfen

Sofern die Schweizer und Schweizerinnen, die misstrauisch gegenüber den Geflüchteten sind, einen Asylsuchenden oder eine Flüchtlingsfamilie, welche die Schweiz verlassen müssen, obschon sie seit einigen Jahren hier lebten, persönlich kennen, sind sie oft wie verwandelt. In allen Landesgegenden gibt es Petitionen, die von den Behörden verlangen, dass dieser oder jener Asylsuchende, diese oder jene Familie, die gut integriert ist und viel Sympathie in der Bevölkerung geniesst, bleiben darf. Solche Petitionen werden oft auch von Leuten unterschrieben, die bei anderer Gelegenheit ihre Stimme gegen Flüchtlinge abgeben, doch weil sie die von der Ausreise bedrohten Menschen kennen, ihr Gesicht ihnen vertraut ist, möchten sie ihnen helfen, damit sie nicht weggeschickt werden, manchmal auch mit grossem persönlichen Einsatz.

«terra cognita» enthält viele andere Artikel zum Thema Asyl. Beispielsweise über den ersten Flüchtlingsstrom, der unser Land betraf. Nachdem der Sonnenkönig, Ludwig IV., im Jahr 1685 das Edikt von Nantes widerrufen hatte – es erlaubte den Protestanten in einem gewissen Mass ihren Glauben zu leben –, retteten sich weit über 100’000 Französinnen und Franzosen über die Grenze. Laut der Historikerin Danièle Tosato-Rigo flüchteten schätzungsweise 60’000 Hugenotten vorübergehend in die Schweiz auf dem Weg nach Deutschland und in andere protestantische Gebiete. Ein Teil blieb in der Schweiz. Um 1690 wurden auf dem Gebiet der damals grossen Republik Bern gut 6’000 Flüchtlinge gezählt, rund 1’500 in der Hauptstadt und 1’800 in Lausanne. Die reformierten Stadtkantone einigten sich damals sogar auf einen Schlüssel zur Aufteilung der bedürftigen Hugenotten: die Hälfte übernahm die Republik Bern, 30 Prozent Zürich, 12 Prozent Basel und 8 Prozent Schaffhausen.

Im 19. Jahrhundert lebten viele Revolutionäre aus Nachbarstaaten in der Schweiz

Über Revolutionäre im Schweizer Exil schreibt die Historikerin Sandra Wiederkehr. Die gescheiterten Revolutionen in Deutschland, Frankreich und Italien um 1830 und vor allem um 1848 hatten die Flucht vieler Liberaler in die Schweiz zur Folge, sie galten damals als Revolutionäre. Die absolutistischen Grossmächte rund um die Schweiz intervenierten wiederholt gegen die Asylpolitik des 1848 gegründeten demokratischen Bundesstaats. Die Radikalen hätten gewünscht, die demokratischen Bewegungen in den Nachbarländern zu unterstützen, doch die Liberalen waren dagegen, denn sie fürchteten, die junge liberale Eidgenossenschaft zu gefährden. Die Aussenpolitik lag aufgrund der ersten Bundesverfassung in der Kompetenz des Bundesrats, während die Kantone damals – im Unterschied zu heute – das Recht hatten, Asyl zu gewähren. Dem Bund stand jedoch das Recht zu, Fremde wegzuweisen, wenn dies zur Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit der Schweiz notwendig schien.
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Irrtümlicherweise wurde der Name Piguet vorerst als Piaget geschrieben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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