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Ein Stimmabdruck ist ein Datensatz, der ähnlich unverwechselbar ist wie ein Fingerabdruck. © adrigu, Flickr, CC

Jeder Anruf ein biometrischer Datensatz

D. Gschweng /  In US-Gefängnissen werden systematisch Stimmdaten erfasst. Das sollte einem auch hierzulande zu denken geben.

Die US-Strafvollzugsbehörden legen in aller Stille eine Stimmdatenbank Gefangener an. Sie enthält bereits Hunderttausende Einträge. Das haben die Investigativ-Plattformen «The Appeal» und «The Intercept» herausgefunden. Einige Gefangene wissen es nicht einmal, dass ihre biometrischen Daten gespeichert werden. Und erfasst werden auch Gesprächspartner ausserhalb der Gefängnisse.

Die Gefängnisverwaltungen rechtfertigen diesen Schritt damit, dass Strafgefangene oft versuchten, unter falscher Identität zu telefonieren, um Zeugen zu beeinflussen, Familien anderer Insassen zu bedrohen oder weitere Straftaten zu begehen. Dazu verwenden sie die persönliche ID eines anderen Gefangenen. Das System kann nun verdächtige Anrufe automatisch filtern, markieren und die Diskrepanz zwischen Stimme und ID erkennen. Die Frage des «Intercept», was genau als «verdächtig» eingestuft wird, beantwortete der Softwareprovider Securus nicht. Erfasst werden auch diejenigen, die angerufen werden, angeblich aus Sicherheitsgründen.

Mangelnde Transparenz

Strafvollzugsanstalten in den US-Bundesstaaten Texas, Florida, Arkansas sowie einige Gefängnisse in Arizona, Florida und Texas haben dem «Intercept» bestätigt, dass sie Stimmdatenbanken führen. Aus Vertragsdaten, die dem Medium vorliegen, geht hervor, dass auch Connecticut und Georgia entsprechende Technologie erworben haben.

Sehr transparent ist die Erfassung nicht. Angehörige oder gar die Öffentlichkeit werden selten bis gar nicht informiert, wenn ein Gefängnis die Software ausrollt. Selbst wenn Gefangene gefragt werden und der Erfassung zustimmen, tun sie dies oft unter fragwürdigen Umständen. Einige Gefängnisverwaltungen schränken die Nutzung des Telefons für Insassen ein, die ihre Stimme nicht erfassen lassen wollen. Das heisst meist, dass Gefangene, ausser ihren Anwalt, niemanden mehr anrufen können. Andere rollen das Erfassungssystem aus, ohne die Gefangenen zu informieren.

«The Intercept» zitiert John Dukes, der bis Oktober 2018 im New Yorker Gefängnis Sing Sing einsass. Mitte 2018 wurde ihm angeboten, Sätze wie «Ich bin ein Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika» ins Telefon zu sprechen. Alternativ, sagte ihm die Strafvollzugsberaterin, dürfte er nicht mehr telefonieren. Dukes wollte den Kontakt zu seiner Familie nicht verlieren und machte mit. Er hatte ein ungutes Gefühl, als er zurück in die Zelle ging, was genau geschehen war, und warum, wusste er nicht.

Daten für die Ewigkeit

Sein Stimmabdruck war einer Datenbank hinzugefügt worden, die potenziell auch anderen Behörden zur Verfügung gestellt werden kann. Die Frage, ob das bereits geschieht, wollten die Behörden im Staat New York nicht kommentieren.

Die Stimmabdrücke verbleiben auch nach der Entlassung der Gefangenen im System. Michael Lynch, Koordinator für das Alachua County Jail in Florida, bestätigte, dass die Stimmabdrücke dort permanent gespeichert werden. Damit können auch Vorbestrafte identifiziert werden, wenn sie von Insassen angerufen werden. Die New Yorker Gefängnisse haben als Anforderung an Securus vertraglich formuliert, dass alle Anrufe mindestens ein Jahr und markierte Anrufe unbegrenzt gespeichert werden sollen.


Screenshot der Voicetracking-Software IPRO (The Investigator Pro via The Intercept)

Martin Garcia, der ebenfalls in Sing Sing einsitzt, sagt, dass viele Gefangene keine Ahnung haben, was sie von sich preisgeben. Einige sässen schon so lange im Gefängnis, dass sie die aktuellen technischen Möglichkeiten nicht einschätzen könnten.

Um erfasst zu werden, genügt es, angerufen zu werden

Dass auch Aussenstehende überwacht werden, stösst Beobachtern besonders auf. «Warum muss ich meine Rechte aufgeben, wenn ich von einem verurteilten Verbrecher angerufen werde?», fragt Jerome Greco, Anwalt für digitale Forensik bei der New Yorker Rechtshilfe-Gesellschaft. Um biometrische Daten von Aussenstehenden zu speichern, bräuchte es eigentlich einen behördlichen Beschluss, so wie für einen Haftbefehl, sagt er.

Der Staat New York versichert zwar, dass Stimmabdrücke von Nicht-Insassen nur anonymisiert gespeichert werden. Das System markiert jedoch alle Anrufe, die an eine bereits bekannte Person gehen.

Gefangenen-Organisationen wehren sich. Wie kritisch die Praxis zu sehen ist, zeigen zum Beispiel mehrere Fälle von angezeigten Vergewaltigungen im New Yorker Frauengefängnis Rikers, die der «Intercept» dokumentiert hat. Die betroffenen Frauen hatten dabei grosse Schwierigkeiten, sich Gehör zu verschaffen. Fälle wurden lange nicht verfolgt, Beweismittel verschwanden. Versucht ein Insasse mit solchen Problemen, sich bei einer dem Telefonsystem bekannten Organisation Hilfe zu holen, wird das Gespräch vom System markiert.

Neben den Strafverfolgungsbehörden haben noch andere ein Interesse an Stimmdaten. Sei es die NSA, Google und Amazon, die mit Voicetechnologie arbeiten, oder Unternehmen, die Anrufer einfach bequemer identifizieren wollen, wie Banken (siehe auch Infosperber «Der Spion im Wohnzimmer»). Software der NSA wurde laut der «American Civil Liberties Union» (ACLU) in der Türkei bereits eingesetzt, um kurdische «Terroristen» zu identifizieren. Das bekannte IT-Sicherheitsunternehmen Kaspersky warnte bereits vor zwei Jahren vor den ersten Missbrauchsversuchen bei Privatkunden.

Kein grundsätzlicher rechtlicher Rahmen

Die Entwicklung der Voice-Tracking-Software «Investigator Pro» oder IPRO, die in den US-Gefängnissen verwendet wird, wurde ursprünglich vom US-Verteidigungsministerium finanziert. Gefängnistechnologie-Unternehmen wie Securus als Lizenznehmer begannen bald, die Software zu vermarkten.

Das schnelle Wachstum der Datenbanken sei wahrscheinlich kein juristisches Problem, sagt Clare Garvie, Senior Associate am Georgetown Law’s Center on Privacy and Technology. Nicht deshalb, weil es keines sein sollte, sondern weil es dafür noch keinen gesetzlichen Rahmen gebe. Es sei nicht verwunderlich, dass Stimmdaten zuerst in Gefängnissen gesammelt würden. Zu mehr als 200’000 Stimmabdrücken von Gefangenen und Ex-Gefangenen, die bisher gespeichert sind, kommen Millionen US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner, die von Gefangenen angerufen wurden.

In «zuerst» schwingt zumindest mit: Wo sammelt die Behörde als nächstes? Das Modell «Anrufe für biometrische Daten» liesse sich auch bei finanziell schlecht gestellten Randgruppen einsetzen. Institutionen könnten Profile erstellen, zum Beispiel bei Schülern, Studenten, Rekruten oder schlicht Angestellten.

Auch in Europa fehlt das Überwachungs-Bewusstsein

Das Wissen, dass Stimmprofile biometrische Daten sind, die ähnlich persönlich sind wie der Fingerabdruck, ist auch in Europa noch wenig präsent. Stimmdaten können missbraucht werden und verdienen besonderen Schutz.

Auch in Europa werden Stimmabdrücke eingesetzt, um Anrufer zu identifizieren. Das erspart vor allem Kunden von Hotlines die langwierige Abfrage von Identifikationsdaten. So zeichnet beispielsweise die Swisscom zur Identifizierung ihrer Kunden Stimmprofile auf, verwendet die daraus gewonnenen Daten nach eigenen Angaben jedoch nur intern. Vielen Kunden ist jedoch gar nicht klar, dass die Ansage «Dieser Anruf wird zu Schulungszwecken aufgezeichnet…», faktisch eine Einwilligung zur Aufzeichnung bedeutet, wenn sie ihr nicht widersprechen. Kunden, die das nicht wollen, können der Aufzeichnung auch zentral widersprechen. Nachteile entstehen ihnen dadurch nicht.

Opt-In statt Opt-Out

Das ist zwar transparenter als in den US-Gefängnissen, ausreichend sei dieses Vorgehen dennoch nicht, findet beispielsweise die Kommunikationsexpertin Su Franke. Sie hat die Swisscom inzwischen mehrmals aufgefordert, aus einem Opt-Out-Verfahren (Kunden müssen es sagen, wenn sie die Aufzeichnung eines Stimmprofils nicht möchten) auf ein Opt-In-Verfahren umzustellen (Kunden müssen ausdrücklich zustimmen). UPC, Salt und Sunrise haben laut «20 Minuten» kein Voiceprint-System, ausschliessen wollen sie eine Einführung aber nicht.

«Zuerst benutzt du das [Voiceprinting] für die Menschen, die in der Gesellschaft marginalisiert werden, und kriminalisierst die Familien der Inhaftierten», argumentiert der Gefangene Martin Garcia. Das habe Auswirkungen weit über die Gefängnisse hinaus. «Wenn diese Daten[banken] einmal da sind, wird es sehr schwierig, sie zu schützen oder ihre Nutzung einzuschränken», sagt der Anwalt Jerome Greco.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

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2 Meinungen

  • am 22.03.2019 um 14:23 Uhr
    Permalink

    Wieso fehlt ein ausgeprägtes «Überwachungs-Bewusstsein» bei uns im Westen ?
    Der Kopf wird verdreht auf die Überwachungen in den ehemals kommunistischen Nationen und heute ganz konzentriert auf die VR China, siehe Huawei.
    Damit wollen unsere verschiedenen institutionellen Abhörer von staatl. und ökon. Organsationen von ihren flächendeckenden Abhöraktionen ablenken.

    Die Anwendungen von «Psycholingistik» und der «Sprachanalyse» in der Kriminalistik/Forensik wurden ab etwa 1998 vom FBI forciert. Nach der Übernahme dieses Handlungswissen durch die US-Geheimdienste verbunden mit «deep learning» und «künstlicher Intelligenz» kann der einzelne menschliche Geist quasi ausgelesen werden.
    Mit der ungeheuer steigenden Rechenleistung von Supercomputer-Clustern können eigentlich alle Gespräche verfolgt und analysiert werden, auf feinster Mikroebene.
    Den Abhörern ist mehr bewusst über die Abgehörten, als die Abgehörten sich mit natürlicher Reflexion bewusst machen können. Das ist keine ScienceFiction, denn es gibt Apps, die zumindest die gesprochene Sprache verfälschen können, aber noch nicht Grammatik und Wortwahl.
    Zu gesellschaftlichen Neben- und Fernwirkungen fragen sie die Experten ihres Vertrauens.

  • am 23.03.2019 um 22:56 Uhr
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    Die SWISSCOM macht solche Simmabdrücke bereits seit einiger Zeit meines Wissens.

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