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Synes Ernst, Spiel-Experte © cc

Der Spieler: Spass mit Büchern

Synes Ernst. Der Spieler /  Bücher sind das wichtigste Spielmaterial in «Bring Your Own Book». Es bietet beste Unterhaltung, kann aber auch das Lesen fördern.

«Nimm das Buch, das zuvorderst in deiner Bibliothek steht und schlage Seite 36 auf. Der erste vollständige Satz, den du dort findest, beschreibt dein künftiges Liebesleben.» Solchen Nonsens-Anleitungen zur Lebenshilfe begegnet der Videogame-Entwickler Matthew Moore regelmässig auf Social Media-Webseiten. Manchmal findet er sie witzig, aber insgesamt doch zu wenig unterhaltend. Von der Grundidee – in einem Buch einen Text suchen und diesen dann losgelöst von seinem ursprünglichen Zusammenhang verwenden – ist Matthew jedoch überzeugt. Daraus liesse sich doch ein Spiel machen, glaubt er. Gedacht, getan, und als das zusammen mit dem Art-Designer Luke Nalker weiter entwickelte Konzept bei Freunden und Bekannten mit Begeisterung aufgenommen wird, steht für Matthew fest: Das Spiel wird publiziert, sofern es finanziert werden kann. Es hat geklappt, «Bring Your Own Book» ist auf dem Markt.

Die Gattung ist egal

Das Spiel ist denkbar einfach. Es geht darum, in Büchern möglichst passende Antworten zu finden. Folglich sind Bücher wichtigstes Spielmaterial. Begreiflicherweise werden diese vom Verlag nicht mitgeliefert. Die Teilnehmenden müssen sie entweder selber mitbringen, «bring your own book», wie der Titel des Spiels ja selber sagt, oder aber der Gastgeber stellt sicher, dass genügend Bücher zur Verfügung stehen. Egal, welche Gattung, es können Romane sein, Globi-Bücher, Kochbücher, Ehe-Ratgeber, Reiseführer oder Bibeln. In einer meiner letzten Spielrunden in einem katholischen Kirchgemeindehaus stand für alle Teilnehmenden je ein Kirchengesangbuch bereit, und es hat bestens funktioniert.

In der ersten Variante übernimmt eine Spielerin oder ein Spieler die Rolle des «Goethe». Als Spielleiter deckt er eine der 100 Stichwortkarten auf und entscheidet sich für eine der beiden dort aufgeführten Kategorien (gelb oder blau). So stehen auf einer Karte beispielsweise «Was kurz nach dem Urknall passiert ist» und «Was ich mir zum Geburtstag wünsche». Seine Wahl fällt auf den Geburtstagswunsch. Kaum hat er dies der Runde mitgeteilt, beginnen die Mitspielenden wie wild in ihren Büchern zu blättern und nach einer passenden Antwort zu suchen. Sie kann aus einem einzelnen Wort bestehen, aus einem halben oder ganzen Satz oder gar einem Textabschnitt. Sobald der erste Spieler eine zutreffende Antwort gefunden hat, kündigt er dies an, und von jetzt an haben die restlichen Teilnehmenden noch 60 Sekunden Zeit, auch noch etwas Passendes zu finden. Stress pur, denn nun müssen die Textstellen den andern vorgelesen werden, worauf «Goethe» den Beitrag auswählt, der seiner Meinung nach die Aufgabe am raffiniertesten, witzigsten oder verrücktesten gemeistert hat. Die betreffende Spielerin erhält dafür einen Siegpunkt.

Die zweite Variante ist im Vergleich zur autoritär-diktatorischen «Goethe»-Version demokratischer. Der Ablauf ist derselbe, nur bestimmt die Gruppe in offener Abstimmung, wer aus ihrer Mitte das überzeugendste Ergebnis abgeliefert hat. Mir gefällt diese Variante besser, Diskussionen über die getroffenen Entscheide gibt es in beiden Fällen. Es ist wie bei einem Fussballspiel oder nach einer Volksabstimmung: Die Verlierer haben immer etwas zu meckern.

Vielleser im Vorteil

Wer Bücher mag, gerne und schnell liest und eine volle Buchseite rasch überfliegen kann, gehört unbedingt zum Zielpublikum von «Bring Your Own Book». Es braucht schon eine gewisse Übung, um unter Zeitdruck passende Sätze, Begriffe oder Textpassagen zu finden. Vielleser sind da im Vorteil, aber selbst sie kommen beim Suchen gehörig unter Druck, vor allem, wenn rechts und links wie wild geblättert wird – das Rascheln der Seiten als zusätzlicher Stressfaktor! Das Schöne an diesem Spiel ist aber, dass dieser Stress gleich wieder abgebaut wird: Jedesmal, wenn ich «Bring Your Own Book» spiele, erlebe ich die zweite Phase, in welcher alle in der Runde ihre Antwort vorlesen, als befreienden Moment. Was da gelacht wird! Wenn zum Beispiel auf die Vorgabe, «ein Gericht in einem ausgefallenen Restaurant», ein Mitspieler antwortet: «Das Lamm Gottes!». Gefunden hat er das Zitat im Kirchengesangbuch. Oder auch, als jemand als «Zeile aus einem Räumungsbefehl» aus Gotthelfs «Uli, der Knecht» die Stelle zitiert: «Da ist, helf mir Gott, nirgends keine Ordnung.» Die Chance, dass man mit einer solchen Antwort punkten kann, ist relativ hoch, was auch für den Satz aus Grimms Märchen «Rapunzel» gilt, der als «Anmachspruch» in der Runde vorgetragen wird: «Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!». Glück hatte ich schliesslich, als es einen «Moment in einem Liebesroman, in dem ein Herz gebrochen wird» zu beschreiben galt. Ich hatte nämlich Elena Ferrantes «Meine geniale Freundin» vor mir und wurde nach kurzer Zeit fündig: «Ich habe dir nie gesagt, dass ich dich will.»

Mehr als blosse Unterhaltung

Top oder Flop? Ob «Bring Your Own Book» zum Erlebnis wird, hängt wesentlich von der Gruppe ab. Wenn phantasievolle und kreative Menschen am Tisch sitzen, die bereit sind, sich auf ein solches Leseabenteuer einzulassen und gleichzeitig auch einen Sinn für gehobenen Nonsens haben, braucht man sich als Spielleiter keine Sorgen zu machen. Eine gewisse Steuerungsmöglichkeit hat man, indem man die Auswahl der Bücher der Runde anpasst. So können etwa Kinder ihre eigenen Bücher mitbringen. Es ist auch spannend, wenn alle Teilnehmenden im gleichen Buch blättern, also alle je einen Band mit Grimms Märchen vor sich haben oder je eine Bibel, die übrigens als unerschöpfliche Zitatenfundgrube in diesem Spiel sehr begehrt ist. Nur – wer hat schon so viele Bibeln in seiner Bibliothek?

«Bring Your Own Book» bietet mehr als blosse Unterhaltung. Es lässt sich bei entsprechender pädagogischer Begleitung durchaus als Mittel zur Leseanimation einsetzen. Die Fachstelle zur Förderung des Lesens des österreichischen Bildungsministeriums empfiehlt das Spiel ausdrücklich zu diesem Zweck. Auf ihrer Webseite wird übrigens ein herrliches Zitat erwähnt, das eine Schülerin in Musils «Mann ohne Eigenschaften» als «Werbespruch für eine elektrische Zahnbürste» gefunden habe: «Den befreienden Geschmack des Lebens selbst auf der Zunge fühlen.»

Selbst wenn solche Perlen eher selten sind – in «Bring Your Own Book» steckt ein enormes Potenzial. Entdecken Sie es und erleben Sie die Welt der Bücher vollkommen neu!

Bring Your Own Book: Zitate-Suchspiel von Matthew Moore und Luke Nalker für 3 bis 8 Spielerinnen und Spieler ab 14 Jahren. Noris Spiele (Vertrieb Schweiz: Simba/Dickie Schweiz, Schlieren), ca. Fr. 22.50.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Spielekritiker für das Ausgehmagazin «Apéro» der «Neuen Luzerner Zeitung». War lange Zeit in der Jury «Spiel des Jahres», heute noch beratendes Mitglied, in dieser Funktion nicht mehr aktiv an der Juryarbeit beteiligt.

Zum Infosperber-Dossier:

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Spielen macht Spass. Und man lernt so vieles. Ohne Zwang. Einfach so.

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