Kind

Abtreiben oder nicht? Bei unserem Autor entschied das Leben. © pixabay

Offener Brief an ein ungeplantes Kind

Red. /  Unser Autor ist jung Vater geworden. Dabei war er für einen Schwangerschaftsabbruch. In einem offenen Brief blickt er zurück.*

Liebe Juli,

Kopfweh, ausgetrocknete Kehle, Übelkeit – und deine weinende Mama, die zitternd auf der Bettkante sitzt. Das sind die Erinnerungen deines Vaters an einen Samstagmorgen im Sommer vor zehn Jahren: An den Tag, als ich von deiner Existenz erfuhr. Keine schönen Erinnerungen, ich weiss. Deshalb ahnst du vielleicht, was nun kommt.

Liebe Juli, du bist ein Unfall. Ein eigentlich unerwünschtes Kind, ein unbeabsichtigtes Produkt grosser Gefühle und grossen Leichtsinns. Das Resultat einer ersten Liebe, die Jahre später dann doch zerbrochen ist. Du aber, du bist geblieben – und mit dir alles, was du mitgebracht hast. Juli, bitte lies den Brief bis zum Schluss. Er beginnt mit harten Worten, endet aber im Glück. Das ist dein Verdienst. Du warst ein Unfall. Du bist ein Glücksfall.

Zwischen dem pochenden Brummen in meinem Schädel blieben irgendwo ihre Worte hängen: «Ich bin schwanger.» Ich sank auf das Kissen zurück und wünschte mich weit fort.

Am Tag, als deine Mama weinte, war sie neunzehn. Ich war ein Jahr älter und am Vorabend auf der Piste. Ich feierte, trank zu viel und torkelte am frühen Morgen nach Hause, wo deine Mama schlafend im Bett lag. Zu diesem Zeitpunkt begleitete sie mich schon länger nicht mehr auf meinen nächtlichen Ausflügen. Ihr war häufig übel, sie hatte keine Lust zu feiern. Trotzdem dachten wir uns nichts dabei. Ach, was waren wir naiv.

An jenem Samstagmorgen hatte deine Mama einen Termin beim Frauenarzt. Ich blieb zuhause, das war so abgemacht. Es handelte sich nur um eine Routineuntersuchung. Frauensache, ihr Problem. Da siehst du, wie reif ich damals war. Um ehrlich zu sein: Ich bekam nicht mit, wie sie erst das Bett und dann das Haus verliess.

Ein leises Schluchzen weckte mich, verwirrt versuchte ich, mich zurechtzufinden. Ich sah deine unglückliche Mama, zwischen dem pochenden Brummen in meinem Schädel blieben irgendwo ihre Worte hängen: «Ich bin schwanger.» Ich sank auf das Kissen zurück und wünschte mich weit fort.

Was folgte, war die quälendste Episode meines Lebens. Zwölf Wochen hat man in der Schweiz Zeit, ein ungeborenes Kind abzutreiben. Danach bleibt nur noch eine Option. Wir waren überfordert, konnten uns nicht entscheiden. In jeder freien Sekunde diskutierten wir, oft bis spät in die Nacht. Während die Zeit davoneilte, sahen wir Kinderwagen, Spielplätze und Familien mit anderen Augen. Plötzlich sahen wir Dinge, die wir bis dahin nur am Rande wahrgenommen hatten. Wenn überhaupt.

Liebe Juli, es gibt ein Lied, das wir damals oft hörten. Eine Textpassage fasst unsere damalige Lage treffend zusammen: «…dein Gehirn blockiert, dein Herz steht still, du kannst es nicht fassen. Schwanger, auf einmal viel mehr nur als ein Wort. Wie war das jetzt mit Abtreibung, ist es richtig oder Mord?»

Die Zeit drängte und wir drehten uns im Kreis. Die Entscheidung über dein Leben raubte uns den Schlaf, beinahe sind wir daran zerbrochen. Ich bin nicht gegen Abtreibungen, falls du dich das fragst. Es ist wichtig, dass werdende Eltern die Möglichkeit haben, über ihr Schicksal, ihre Zukunft und ihren Lebensweg zu bestimmen. Es gibt Situationen, in die ein Kind besser nicht hineingeboren wird. Zu seinem eigenen Schutz – und zum Schutz der Eltern. Das ist hart, aber: Wären Abtreibungen verboten, gäbe es mehr gescheiterte und zerbrochene Existenzen.

Das wird dich vielleicht nur am Rande interessieren, liebe Juli. Bitte entschuldige, aber das muss gesagt werden: Militante, oft kinderlose Abtreibungsgegner wollen Frauen das Recht auf Selbstbestimmung absprechen. Sie begründen ihre Haltung mit einer konservativen und religiösen Ethik. Ohne Empathie für die Beteiligten und ihre Lage stecken sie die Betroffenen in ihre säuberlich beschrifteten Schubladen. Als würde sich die Realität nach ihren Etiketten richten. Ich lache ihnen ins Gesicht, mit einem prachtvollen Kind an der Hand, dessen Existenz lange auf der Kippe stand.

Ich fühlte mich nicht bereit, wollte meine Jugend leben, Träume verwirklichen.

Zurück zu dir, liebe Juli. In der Zwischenzeit hatten sich zumindest die Fronten geklärt: Deine Mama wollte dich behalten, ich eher nicht. Ich fühlte mich nicht bereit, wollte meine Jugend leben, Träume verwirklichen. Ausserdem glaubte ich nicht an meine Fähigkeiten als Vater. Sicher, ich wollte Kinder. Irgendwann. Diesen wollte ich aber ein geordnetes Leben bieten – und nicht die winzige Zweizimmer-Wohnung, das mickrige Salär und die hohe Arbeitsbelastung eines Journalisten in Ausbildung.

Die Diskussion gestaltete sich zunehmend schwierig. Ich vertrat meine Meinung, wollte deiner Mama aber auch keine Entscheidung aufdrängen. Sie sass in derselben Zwickmühle. Schliesslich rangen wir uns durch: Da ich mir derart unsicher war, lenkte sie ein. Sie wollte kein Kind mit einem Mann, der bereits vor der Geburt zweifelt. Also liessen wir uns beraten und vereinbarten einen Abtreibungstermin – mit dir und einem mulmigen Gefühl im Bauch.

Der kurzfristig angesetzte Termin fiel auf den Tag, an dem ich zum ersten Mal ins Militär einrücken musste. Die Herren in Grün zeigten kein Verständnis. Ich wurde gebraucht, das Vaterland musste mal wieder dringend verteidigt werden. Deine Mama betrat die Klinik deshalb in Begleitung deiner Grossmama. Am Abend erhielt ich dann einen Anruf: «Du wirst bald Papa.»

Der Arzt hatte die Zweifel deiner Mama bemerkt und trat erfolgreich für dein Leben ein. Für dich war das ein Glücksfall, ich fühlte mich erschlagen. Die banalen Ängste und Sorgen der übrigen Rekruten machten mich aggressiv. Ich fürchtete mich vor der Zukunft, vor dir. Einem kleinen, unfertigen Wesen.

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt: Ich bediene mich Goethes Worte um die restliche Zeit der Schwangerschaft zusammenzufassen. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle, wobei die Vorfreude immer wieder aufblitzte, sich aber nie richtig durchzusetzen vermochte.

Dann kam der Stress. Familie und Freunde informieren, Glückwünsche entgegennehmen, lächeln. Zimmer einrichten, Kinderutensilien kaufen, Geburtsvorbereitungskurs besuchen, lächeln. Wir taten das, was die Gesellschaft von uns erwartete. Auch wenn Teile derselben Gesellschaft, darunter viele Abtreibungsgegner, mit grossen Augen auf den Kugelbauch deiner neunzehnjährigen Mama starrten und sich die Mäuler über uns zerrissen. Gerüchte machten die Runde. Wir reagierten mit einer «Wir gegen den Rest der Welt»-Haltung, rückten näher zusammen und beschlossen, sie alle Lügen zu strafen.

Dann kamst du, liebe Juli. Du hattest es eilig, warst bereit für die Welt. An deine Geburt erinnere ich mich nur verschwommen, noch immer habe ich Mühe, meine Gefühle in Worte zu fassen. Ich weiss noch, dass deine Mama starke Schmerzen hatte. Dass sie mich mit Schimpfwörtern eindeckte, weil es so weh tat und ich ihr keine Linderung verschaffen konnte. Ich hielt ihre Hand, Nägel gruben sich in Fleisch. Die Hebamme vermerkte in ihrem Büchlein: «Gute Unterstützung durch Partner.» So fühlte sich das aber nicht an, ich war hilflos, verloren und überfordert.

Ich sah zu, wie du auf diese Welt kamst. Der erste Atemzug, der erste Schrei. Das Strampeln mit den winzigen, zerbrechlichen Gliedmassen. Deine Haut auf meiner Haut. Etwas regte sich in mir: Gefühle, die ich nicht kannte. Sie berührten mich im Innersten. An Orten, von denen ich nichts gewusst hatte.

Du kamst, und meine Welt stürzte ein. Dann hast du sie wieder aufgebaut und zu einem besseren Ort gemacht.

Ich schnitt die Nabelschnur durch, half der Hebamme dich zu waschen und legte dich in die Arme deiner Mama. Ein kleines, schutzbedürftiges Menschlein. Unser Kind. Bis heute ist deine Geburt mein eindrücklichstes Erlebnis. Du kamst und meine Welt stürzte ein. Dann hast du sie wieder aufgebaut und zu einem besseren Ort gemacht.

Nach einigen Tagen konnten du und deine Mama die Klinik verlassen. Wir richteten uns in unserem Leben ein und lernten, mit der neuen Situation umzugehen. Mit jedem Tag wuchsen wir an der Aufgabe, bis wir unsere Elternrolle ausfüllten. Wir mussten um dich kämpfen, einige von unseren Familienmitgliedern in die Schranken weisen. Am liebsten hätten sie dich selber grossgezogen, sie trauten uns diese Aufgabe nicht zu. Wir gaben nicht nach und dich nicht her. Unser Kind, unsere Aufgabe, basta.

Ich gebe es zu, Juli. All die Erziehungsratgeber, die sie uns schenkten, sind noch immer ungelesen. Wir brauchten sie nicht. Manche Dinge funktionieren auch ohne Bücher, Fachwissen und Studien. Schau dich an, du bist der Beweis dafür.

Natürlich waren nicht alle Zweifel ausgeräumt, natürlich gab es Tiefpunkte. Und ja, liebe Juli: Manchmal verfluchte ich dich und deine Existenz, manchmal habe ich mich zurück in mein früheres, unbekümmertes Leben gewünscht. Nimm das nicht persönlich, Juli. So ist die Realität. Eltern, die behaupten, sie hätten ihr Kind zu jedem Zeitpunkt vorbehaltlos geliebt, lügen. Wir opferten einen Teil unserer Jugend, um dir gute Eltern zu sein. Ein kleines Opfer. Ausserdem gab es deine Grosseltern, die uns unterstützten und halfen, wo sie nur konnten. Das gab uns die Gelegenheit, durchzuatmen. Bei aller Liebe, kleine Juli: Wir brauchten das. Es war nicht immer einfach.

Du halfst uns bei unserer Aufgabe, du gabst uns so viele wunderschöne Dinge. Das tust du noch immer. Zum ersten Mal krabbeln, brabbeln, lachen. Das erste Wort, der erste Schritt. Die ersten Zähne. Zum ersten Mal Gemüsebrei spucken. Vor Vergnügen quietschen, entrüstetes Weinen. Du, selig schlafend, der Abdruck deiner Träume im Gesicht. Deine Geschichten und Spiele, von dir selber kreiert. Deine Persönlichkeit, die mit dir wächst. Die ersten Widerworte, der erste Streit. So viele erste Male – für dich, für uns. Mit dir im Wald, auf dem See, am Wandern, auf dem Spielplatz. Du, in der Kinderkrippe, traurig. Wo sind Mama und Papa?

Trösten, ermutigen, schimpfen, scherzen. Du, lachend auf meinen Schultern, die Händchen auf meinen Augen. «Rechts, Papa! Nein, jetzt links!» Stundenlang. Obwohl du die Richtungen doch noch gar nicht unterscheiden konntest. Wir, im Regen, unser selbst gedichtetes Regenlied singend. Der erste Schultag, ein nervös zitterndes Vögelchen. Die ersten Noten, Hobbys, die beste Freundin. Geburtstage, Ferien, Wettkämpfe, Schultage. Die Zeit verfliegt, kleine Juli. Flieg mit, lass dich tragen.

Ich habe dir das Leben geschenkt, kleine Juli. Du hast mein Leben gerettet. Dafür danke ich dir von Herzen.

Ich weine, Juli. Und ich weiss nicht, warum. Ich habe so viele Erinnerungen, du füllst mich aus. Du bist mein persönliches Wunder, der Sinn in meinem Leben. Dank dir sehe ich die Welt aus einem anderen Blickwinkel. Mit deiner Hilfe habe ich mich erinnert: an das Wunder des Lebens und wie Glück funktioniert. Du zeigst mir das Unkraut, das in einem Riss des Strassenbelags wächst. Die Raupe am Wegrand, das Rascheln eines Blattes. Der Schmetterling am Strauch, den schön geformten Stein. Scheinbar alltägliche Dinge, die ich vergessen und dann jahrelang übersehen habe.

Die Welt mit Kinderaugen sehen, was für ein Gewinn. Du stellst die richtigen Fragen, bringst mich in Verlegenheit. Entwaffnende Ehrlichkeit, ein reines Wesen auf der Suche nach der Wahrheit. Und ich, ich darf daran teilhaben. Du siehst mich mit deinen strahlenden Augen an, nimmst meine Hand. Deine Anwesenheit tröstet mich, macht mich glücklich.

Ich vertraue darauf, dass auch du es spürst: Liebe, Geborgenheit und Zuneigung. Dinge, die sich niemals ändern. Egal was aus dir wird, egal was du tust. Ich bin immer für dich da, das schwor ich mir, als ich dich zum ersten Mal in den Händen hielt.

Lange war nicht klar, ob es dich jemals geben würde, dein Leben hing an einem seidenen Faden. Nur dank Zufällen und mit viel Glück kamst du auf diese Welt. Nun ist diese Welt ein besserer Ort. Ich bin froh, dass du da bist. Ich liebe dich.

Ich habe dir das Leben geschenkt, kleine Juli. Du hast mein Leben gerettet. Dafür danke ich dir von Herzen.

Für immer, dein Papa

*PS: Nein, ein Pony schenke ich dir trotzdem nicht.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

*Um die Identität seines Kindes zu schützen, bleibt unser Autor anonym. Der Text erschien zuerst im «Surprise: Strassenmagazin».

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Eine Meinung zu

  • am 25.12.2018 um 13:20 Uhr
    Permalink

    Ein sehr berührender Artikel – vielen Dank dem Autor.

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