Kommentar

Coronavirus – Was wir bisher schon gelernt haben

Ariane Tanner © A.T.

Ariane Tanner /  Welche Themen, Erkenntnisse und Fragen nehmen wir aus dieser Krise mit? Die folgende Liste kann gerne ergänzt werden.

Am neuartigen Coronavirus, das die aktuelle Pandemie auslöst, können alle Menschen auf der Welt erkranken. Zuschreibungen wie bei ähnlichen Pandemien, dass es sich um einen ‘asiatischen Virus’ oder eine ‘afrikanische Krankheit’ handle, kann man gleich in der rassistischen Mottenkiste liegen lassen. Viren kümmern sich nicht um Hautfarbe, Klasse, Religion und Ähnliches (Interview mit dem Historiker Gregg Mitman). Gegen COVID-19 ist keine/r immun. Und wenn alle Menschen diese Eigenschaft im Zeitalter des Anthropozäns teilen, dann ist die zweite und dritte verbindende Eigenschaft nicht weit.

Um Verbindungen geht es auch im Welthandel: Wir kommen ins Nachdenken, wenn Fabriken in China stillstehen. Von welchen Produktionsketten sind wir abhängig und was wollen wir an Engpässen in Kauf nehmen, damit die Produktion billiger ist: Keine Gesichtsmasken? Keine technischen Teile? Die Antwort darauf muss genau ausfallen. Wer jetzt das Nationale hochleben lässt, hat nicht verstanden, dass wir gar nicht alles in der Schweiz produzieren können, weil uns dazu z. B. die notwendigen Rohstoffe fehlen. Handel macht Sinn, ebenso der Austausch von Ideen, Wissen und kulturellen Gütern, wenn wir nicht komplett in der Provinzialität versinken wollen. Aber es stellt sich die Frage, ob man dem Shareholder Value und den Aktionärsgesellschaften alles unterordnet.

Altbekanntes Wissen neu aufgelegt

Exponentielles Wachstum?! Da war doch was in der Oberstufe oder im Gymi. Jetzt plötzlich erinnern wir uns wieder an die Geschichte vom Sultan und dem Schachbrett, auf dessen erstem Feld ein Weizenkorn und auf jedem darauffolgenden das Doppelte des vorhergehenden zu liegen kommen soll: 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256 etc.… Es reichen die Weizenkörner der Erde nicht aus, um die 64 Felder des Schachbretts nach diesem Muster zu bestücken. Auch längst vergessen geglaubtes Wissen über Graphen, Kurven und Mengenlehre wird aus den hinteren Hirnwindungen hervorgekramt. Mit Stolz gucken wir Animationen zur Verbreitung des Virus’ zu, weil wir sie kapieren («Washington Post», 14.3. 2020).

So genannt «systemrelevante Berufe», so lernen wir, sind PflegerInnen, ÄrztInnen, ApothekerInnen sowie die KinderbetreuerInnen für die Kleinen von Personen aus den systemrelevanten Berufsgruppen. Zudem diejenigen, die die Infrastruktur am Laufen halten von den kommunalen Diensten (Müllabfuhr) bis zum Detailhandel. Das sind die gesellschaftstragenden Personen und unsere Absicherung und gleichzeitig sind sie meistens schlecht entlöhnt und total überarbeitet (siehe z. B. zum Detailhandel). Nicht, dass wir das nicht schon lange gewusst hätten. Aber wenn wir uns auf diese Personen weiter verlassen können wollen, müssen wir den Wert dieser Arbeit mit höheren Löhnen und vernünftigeren Arbeitsschichten sichtbar machen.
Gleichzeitig sehen wir sofort ein, dass wir in diesen Zeiten nicht auf Private angewiesen sein wollen, wenn frisches Wasser oder Elektrizität garantiert werden soll. Oder wollen wir so viel dafür zahlen wie im Vergleich für ein Fläschchen Handsterilium in der Apotheke um die Ecke? (500 ml à 38.40)

Ebenfalls wird uns sonnenklar, dass es so ganz ohne Beizenkultur und Restaurants, so ganz ohne Lesungen, Theaterstücke, Konzerte, Performances, Kinos und weitere gemeinsame Vergnügungen an öffentlichen Orten und in Vereinen schon verdammt öde ist. Wollen wir wirklich ständig auf den Idealismus dieser kulturproduzierenden Gesellschaftsschicht abstellen?

Die Grenzen der Selbstverantwortung

Die Selbstverantwortung als heiliges Prinzip des Neoliberalismus ist als unzureichend entlarvt. Man ahnte es zwar immer schon und kennt es zur Genüge aus Erfahrung, wenn es um die Bekämpfung der globalen Erwärmung geht, aber jetzt ist’s klar: Wenn nur an das eigene Gewissen appelliert wird, passiert herzlich wenig. Deshalb braucht es flächendeckende Information, Redlichkeit von Medien, koordinierte, einheitliche Reglementarien und Subventionen am richtigen Ort.

Das öffentlich-rechtliche Fernsehen und Radio sind essentiell für die Informationslage. Hier findet sich das Wichtigste, die Übertragung der Pressekonferenzen unseres Bundesrates wirken unaufgeregt und klar und zugleich erfrischend divers: In Frankreich erscheint Macron in Grossaufnahme, in Österreich tritt Sebastian Kurz mit einer ausschliesslich männlichen Entourage auf, während in der Schweiz eine Bundespräsidentin, ein Bundesrat und zwei Bundesrätinnen in zwei Landessprachen (kurzzeitig sogar in vier) sprechen (Medienkonferenz des Bundesrates vom 16.3. 2020 )

Wissenschaft und Forschung sind essentiell. Die Coronakrise macht deutlich, dass man auf Leute zählen können muss, die Bescheid wissen. Weder sind wir Virologinnen noch Epidemiologen, sondern potentiell gefährdete Personen. «Evidence based» meint, dass man auf wissenschaftlicher Expertise beruhend Entscheide trifft. Das heisst vor allem auch, dass alle Massnahmen auf dem jetzigen Wissensstand begründet sind und damit in der Zukunft auch wieder begründet aufgegeben werden können.

Zeitgleich warten wir auf einen so genannten Durchbruch mit Impfstoffen, auf den sogar Personen hoffen, die ansonsten für Wissenschaft nichts übrig haben (vgl. z. B. Donald Trump, der zwar Public Health abschaffte, aber jetzt gerne deutsche Forscher einkaufen wollte: «Süddeutsche Zeitung», 15.3. 2020).

An Antibiotika wird kaum mehr geforscht, an Impfungen generell wenig. In Anbetracht der aktuellen Notlage sollte ein neues Modell in Betracht kommen: Die Pharmaindustrie könnte zur Hälfte verstaatlicht bzw. von den Börsen entkoppelt werden. Wenn man möchte, dass diese Forschung, die nicht gewinnorientiert sein darf, vorankommt, muss man sie gezielt fördern.

Gesellschaft und Umwelt vernetzt denken

Wir ahnen aber auch schon, dass Wissenschaft nicht nur Nerds in Labors zur Rettung der Welt meint: Diese Krise wird die Welt anders zurücklassen als sie sie angetroffen hat. Für diese Umwälzungen im Wirtschaftlichen und Sozialen und Politischen sowie Kulturellen braucht es auch Leute aus den Sozial- und Geisteswissenschaften, die klug mitgestalten.

Solidarität hat innert Kürze wieder ihre alte Bedeutung gewonnen. Sich mit Anderen verbünden, sich aushelfen, sich unterstützen. Lange Zeit als linker Slogan, der nur noch an 1. Mai-Feiern skandiert wurde, verschrieen, ist Solidarität jetzt wie selbstverständlich wieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Allerdings scheint die Coronakrise auch eine Art von sozialem ‘Zwangsouting’ zu bewirken: Am unheimlichsten diejenigen, die zehn Stunden nach Bekanntgabe der Schulschliessungen ihre zwei Jobs und drei Kinder organisiert sowie das Palett Klopapier neben dem SUV in der Garage untergebracht haben und verlauten lassen, dass sie keine Hilfe brauchen.

Überhaupt: Pflege, Pflege, Pflege. Das ist das Wichtigste im Moment. Pflege der Kranken, Pflege der Alten, Pflege von Freundschaften – natürlich immer unter Einhaltung der Hygienemassnahmen und Abstandsvorschriften. Einsame Menschen sollen nicht vergessen werden, für die Familie, die Nachbarn und das Eigene muss auch gesorgt sein. Ich glaube, das macht mindestens so glücklich wie Recycling. Das sind gemachte Erfahrungen, die in naher Zukunft gleich auf die natürliche Umwelt, das Klima und den sozialen Zusammenhalt übertragen werden können.

Notiz am Rande: Es gibt auch die Vermutung, dass der immense Klopapierkauf mit den Büchsenravioli, welche aus einem unausgesprochenen Bedürfnis nach Regression in vergangene Kindheitstage massig nach Hause getragen werden, zu tun hat.

Die viel besagte Digitalisierung soll sich jetzt beweisen: Kann sie nur Netflix und Online-Shopping oder schafft man es, sinnvolle Homeoffice-Strukturen, Schulsequenzen und Fernprüfungen zu installieren? (Vgl. z. B. Schlaumeier.Online oder FutureLearn oder die PH Schwyz).

Grün tut gut. Glücklich kann sich schätzen, wer jetzt einen Gartenzugang hat. Ein unaufgeräumter Garten mit hoher Biodiversität fördert ebenso die Gesundheit wie ein Spaziergang im Wald. Plötzlich ist klar, was uns immer schon gesagt wurde: Geht einfach raus, tut was mit den Händen im Dreck, spaziert, nehmt das Rad… (SCNAT, Faktenblatt 2019). Aber bitte beachten: Ungeübte RadfahrerInnen gehen besser zu Fuss, auch das bisher nie benutzte Skateboard kann getrost noch warten bis die Spitäler für solche Fälle wieder Kapazitäten haben. Zudem auch keinen unnötigen Druck auf die natürliche Umgebung ausüben: keine Abfälle im Wald und auf Wiesen liegen lassen, es muss nicht immer Bräteln sein, Wildtiere respektieren, die Pfade einhalten und keine Bäume auf eigene Faust fällen.

Der vorläufige Schluss dieser Liste

Last but not least: Die Konsumgesellschaft ist an ihr Ende gekommen, man hat mehr an Materiellem zu Hause als man dachte und lernt es neu zu schätzen; das Militär hat doch auch einen Sinn, wenn es zivile Aufgaben (Unterstützung des Gesundheitswesens) übernehmen kann; Privatautos erleben ein Revival und erweisen sich vor allem als «drive-in» für Coronatests als nützlich («Der Spiegel», 12.3. 2020)

Es ist ein kollektiver und kooperativer Anpassungsprozess an eine Ausnahmesituation, die auch nicht frei von Furcht ist. Diese Zeit dafür einzusetzen, das eigene Kind mit einem ‘Corona-Virus-youtube-Kanal’ für eine Viertelstunde berühmt werden zu lassen, mag für die einen das höchste Ziel sein. Auch allfälliges Jubeln über die ‘grosse Befreiung’ und den immensen Zeitgewinn, wonach man sich jetzt endlich den schlummernden Hobbies widmen könne (Stricken, Heisslöten, Kekse backen, Singen…) und ernstlich darüber nachdenke, nun doch den innerlich schon längst Form annehmenden Roman niederzuschreiben, um in den Kreativpausen auf der verstaubten Gitarre den nie besuchten Instrumentalunterricht nachzuholen, sind mir persönlich ein wenig fremd. Kreativität in allen Ehren, aber grösstenteils fühlt es sich gerade so wie auf einem urbanen Campingausflug an: Man muss den Berufsalltag und Haushalt trotzdem schmeissen, nur alles unter verkomplizierten Umständen.

…to be continued…


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Ariane Tanner ist Historikerin und Texterin aus Zürich. Aktuell wandert sie zwischen Forschung, Unterricht und Kunst. Interessensbindungen: Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

Coronavirus_1

Coronavirus: Information statt Panik

Covid-19 fordert Behörden und Medien heraus. Infosperber filtert Wichtiges heraus.

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6 Meinungen

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 22.03.2020 um 15:25 Uhr
    Permalink

    Like……..

  • am 23.03.2020 um 12:04 Uhr
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    Ausgezeichneter und irgendwie auch Hoffnung spendender Text. Bleibt nur noch die Hoffnung, dass die Menschen tatsächlich so lernfähig sind und sich diese richtigen und eigentlich vollkommen vernünftigen und logischen Einsichten über das Ende des Pandemie hinaus halten.

  • am 23.03.2020 um 12:40 Uhr
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    100 % Konsens, danke! Ich habe nur noch eine kleine persönlich Ergänzung: Bin 85 und gehöre folglich hochgradig zur sogenannten Risikogruppe. Das kann jeder über 60-jährige getrost bestätigen. Die Sterbe-Wahrscheinlichkeit wird mit dem Alter grösser und das Immunsystem schwächer. Nur: eine höhere Gefahr geht von mir nicht aus. Man muss mich auch nicht auf Teufel komm raus beschützen. Bitte für mich kein Beatmungsgerät bereitstellen. Ich trage Soge, nicht infiziert zu werden und niemand zu gefährden. Erwischt es mich doch, melde ich mich bei EXIT, bin dort Mitglied. Das habe ich heute auch meinem Hausarzt mitgeteilt und in der Patientenverfügung nachtragen lassen.

  • am 23.03.2020 um 12:44 Uhr
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    Alle sprechen jetzt vom exponentiellen Wachstum, aber das ist es nur am Anfang. Je mehr Infizierte und Geheilte, und deshalb vorläufig Immune, desto kleiner das Reservoir von Infizierbaren. Die Wachstumskurve geht deshalb in eine *logistische* Kurve über und nimmt später sogar wieder ab.

    "Wissenschaft und Forschung sind essentiell. Die Coronakrise macht deutlich, dass man auf Leute zählen können muss, die Bescheid wissen.»
    Wer weiss in dieser komplexen Situation schon umfassend Bescheid? Im Moment sehen wir vor allem die Sicht der Virologen. Aber schon bei Epidemiologen sind die Meinungen geteilt, auch wenn es nur ganz wenige sind, welche die «Mainstream"-Meinungen hinterfragen. Ich bin noch nicht sicher, ob man die Behauptungen vom pensionierten Arzt und Gesundheitspolitiker Wolfgang Wodarg (https://www.wodarg.com) negieren kann, wenn er behauptet, die gegenwärtige Situation ist eine Übertreibung auf Grund von falsch interpretierter Statistik, und vom Epidemiologen John Ioannidis (https://www.statnews.com/2020/03/17/a-fiasco-in-the-making-as-the-coronavirus-pandemic-takes-hold-we-are-making-decisions-without-reliable-data/) diesbezüglich unterstützt wird.

    Ein berühmter Virologe ist zur Zeit Christian Drosten, der uns jeden Tage sehr umfangreiche Infos gibt. Hier seine Replik zu Wodarg mit gar nicht so grossen Widersprüchen:
    https://www.ndr.de/nachrichten/info/16-Coronavirus-Update-Wir-brauchen-Abkuerzungen-bei-der-Impfstoffzulassung,podcastcoronavirus140.html

  • am 23.03.2020 um 16:10 Uhr
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    Genau so ist es, eigentlich war es vorhersehbar und ist so hoffe ich ein erster Schritt zur Abkehr vom Neoliberalismus hin zu einer solidarischeren Gesellschaft. Doch bis jetzt muss ich befürchten es kippe noch mehr in Richtung Ersatz der Menschen durch Roboter, also eine noch grössere Abhängigkeit von der «Wirtschaft» die immer noch die Care-Arbeit, die tagtäglich von unzähligen auch sonst belasteten Menschen wahrgenommen wird, nicht als zur Volkswirtschaft gehörend wahrzunehmen bereit ist. Umdenken tut not eine Neuorientierung in Richtung Bewahrung der Natur und der Menschen, die nicht nur durch Covid 19 zu den Risikogruppen gehören. Martha Beéry-Artho

  • am 23.03.2020 um 20:55 Uhr
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    Tut wohl so etwas zu lesen.
    Aber nicht vergessen: Die Produktion für die Bedürfnisse von Mensche und Erde ist nur in der klassenlosen Gesellschaft möglich.

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