Kommentar

Der Streit zwischen Ärzten und Psychologen schwelt schon lange

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsWalter Aeschimann ist freischaffender Historiker und Publizist. Er hat im Auftrag der Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und ©

Walter Aeschimann /  Psychologen und ihre Verbände intervenieren wieder einmal beim Bundesrat. Sie wollen keine Anhängsel der Ärzte mehr sein.

Die Psychotherapeuten streiten sich. Einmal mehr und wie so oft in den letzten hundert Jahren. Der neuste Konflikt wurde Mitte März 2019 lanciert. Psychologische Berufsverbände haben dem Gesamtbundesrat die Petition «Hürden abbauen – Behandlung psychischer Krankheiten sicherstellen» übergeben. Unter den Organisationen sind
• die Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (ASP),
• der Schweizerischer Berufsverband für Angewandte Psychologie (SBAP) und
• die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP)
vertreten. Innerhalb von drei Monaten haben sie 94’422 Unterschriften gesammelt. In einer Petition fordern die Berufsverbände einen Wechsel vom Delegations- zum Anordnungsmodell.
Das würde folgendes bedeuteten: Alle Mediziner, auch Haus- oder Kinderärzte, könnten eine Therapie verordnen. Psychologische Psychotherapeuten müssten nicht mehr bei einem Arzt angestellt sein, um Geld von den Krankenkasse zu erhalten. Ein ähnliches Modell kennen die PhysiotherapeutInnen schon heute.

Im Moment gilt in der Psychotherapie ein anderes System. In der Schweiz gibt es seit dem Psychologieberufegesetz (PsyG), das am 1. April 2013 in Kraft trat, grundsätzlich zwei Zugänge zum Beruf des Psychotherapeuten.

  1. Über den Erwerb des eidgenössischen Arztdiploms (eidgenössische Prüfung Humanmedizin). Nach mehrjährigen Zusatzausbildungen gibt es den Titel Facharzt in Psychiatrie oder Psychotherapie.
  2. Über einen universitären Masterabschluss in Psychologie und eine ebenfalls mehrjährige Zusatzausbildung. Wer diesen Weg eingeschlagen hat, nennt sich psychologischer (früher: nichtärztlicher) Psychotherapeut.

Die Ausbildung ist für beide Richtungen sehr anspruchsvoll. Die berufliche Stellung ist jedoch eine völlig andere.

Direkte Verrechnung oder Verrechnung über einen ärztlichen Psychiater

Ärzte oder Psychiater dürfen psychotherapieren. Ihre Leistungen werden in der Regel von den Krankenkassen aus der Grundversicherung vergütet. Die psychologischen PsychotherapeutInnen haben diese Möglichkeiten indes nicht. Sie dürfen zwar selbständig arbeiten. In diesem Fall können sie ihre Leistung aber nicht über die Grundversicherung abrechnen. Die Klienten zahlen ihre Therapien selber. Wollen die psychologischen PsychotherapeutInnen ihre Leistungen von der Grundversicherung vergütet haben, müssen sie sich von einem Psychiater (Arzt) anstellen lassen. Sie arbeiten somit «delegiert» (Delegationsmodell). Nur dann übernimmt die Krankenkasse auch die Therapiekosten. Die Abrechnung erfolgt aber über den Psychiater, der die Therapie verordnet und den Verlauf überwacht.

Ärzte zeigen sich über den neusten Vorstoss alarmiert

Die psychologischen Berufsverbände hinterfragen dieses System seit Jahrzehnten. Ihre jüngste Petition alarmierte nun die Ärzte. Erich Seifritz, Präsident der Vereinigung Psychiatrischer Chefärztinnen und Chefärzte, warnte in der «Ärztezeitung» und in einem NZZ-Gastkommentar vom 9. April 2019 davor, die Psychologen zur Grundversicherung zuzulassen («Psychotherapie-Petition: schlechtere medizinische Versorgung zu höheren Kosten»). Die Forderung sei «eine grosse Gefahr für die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz», schreibt der Chefarzt der Erwachsenenpsychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Er argumentierte mit einer «Kostenexplosion» und minderer «Behandlungsqualität», ohne dies mit Zahlen zu belegen. Einige Tage später widersprach der Psychologenverband FSP, erwartungsgemäss mit der gegenteiligen Überschrift: «Bessere Versorgung zu tieferen Kosten». Das Autorenteam blieb in ihrer Antwort den Nachweis für die Behauptung gleichfalls schuldig (NZZ vom 16. April 2019). Der «Tages-Anzeiger» übernahm das Thema am gleichen Tag und titelte: «Streit um Psychotherapie spitzt sich zu».

Neu ist die Einigkeit gegen den Stand der Ärzte

Der neuste, öffentlich ausgetragene Konflikt ist so alt wie die Psychotherapie. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die Argumente stets die gleichen sind. Der Grundkonflikt hat sich vor Jahrzehnten etabliert, nur haben sich die Fronten leicht verschoben. Den Ärzten ging es seit je darum, ihre – historisch erlangte – Dominanz im Gesundheitswesen zu verteidigen und somit auch ein Monopol auf den Leistungsanspruch bei den Krankenkassen. Die psychologischen (bis 2013 nichtärztlichen) Psychotherapeuten fordern einen direkteren Zugang zu den Leistungen der Krankenkassen, aber auch, dass ihre beruflich teils unwürdige Situation – die Abhängigkeit von den Ärzten – beseitigt wird.

Eher neu ist die gesundheitspolitische Einigkeit gegen den Stand der Ärzte. Während Jahrzehnten haben die nichtärztlichen Psychotherapeuten unter sich gestritten. Es ging um die «richtige» Lehre der Psychotherapie und darum, welcher Grundberuf zur psychotherapeutischen Ausbildung gelten soll. Eine Fraktion votierte dafür, dass verschiedene Grundstudien – neben Psychologie etwa auch Theologie, Philosophie oder Soziologie – zugelassen wird. Die andere Fraktion reklamierte das Monopol auf dem Studium der Psychologie als Grundausbildung. Die zweite Gruppe hat sich mit dem PsyG durchgesetzt.
Auswirkungen auf die Kosten sind ungewiss

Die Ärzte machten nie und bis heute keine Zugeständnisse an jene Psychotherapeuten, die kein Medizinstudium vorzuweisen haben. Und sie werden von der Politik gestützt. In regelmässigen Abständen verspricht der Bundesrat, ein Anordnungsmodell zu entwerfen. Ebenso zuverlässig verkündet er, dass die Arbeiten eingestellt worden seien, zuletzt im März 2018. Das Generalsekretariat von Gesundheitsminister Alain Berset argumentierte gegenüber den Verbänden, dass eine Verordnungsänderung in der derzeitigen politischen Situation nicht opportun sei. Der Kostendruck auf die Grundversicherung sei zu hoch. Auch hier: Es gibt keine objektiven Zahlen für die Behauptung, dass beim Anordnungsmodell die Gesundheits-Kosten massiv steigen würden.

Kann der Erfolg einer Psychotherapie gemessen werden?

Der Konflikt zeigt einen weiteren Aspekt, der im Streit um Einfluss und Geld zunehmend untergeht. Wie definieren wir Gesundheit in modernen Zeiten? Wie kann der Erfolg einer Psychotherapie gemessen werden? Die Geschichte der Psychotherapie steht somit auch exemplarisch, wie sich Diskussionen und Definitionen um Gesundheit in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben: Vom Diskurs über ganzheitliche Modelle, in die auch philosophische, soziologische oder theologische Ideen einbezogen wurden, hin zu Kosten-Nutzen-Modellen und zur klinischen Psychotherapie mit ihrer Nähe zur Neurobiologie in den Labors der Universitäten.
Über Jahrzehnte haben psychotherapeutische Praktiker definiert und entwickelt, was Psychotherapie ist, was sie leisten kann und soll. Dabei gab es wiederholt auch Versuche, Psychotherapie ausserhalb von Kostendruck und politischer Einflussnahme zu definierten und einen schulenübergreifenden Konsens festzulegen. Nun steuern zunehmend ökonomische Hochrechnungen und naturwissenschaftliche Labordaten die Psychotherapie – und lenken den Diskurs und die Argumentation in Politik und Öffentlichkeit. Eine hurtige Interpretation von Daten definiert die Therapie – oft mit dem Einsatz von Medikamenten – und verdrängt die intensive tiefenpsychologische Beschäftigung mit dem versehrten Menschen.

Entwicklung der Psychotherapie in mehreren Folgen

In mehreren Folgen wird Infosperber in den kommenden Wochen aufzeigen, wie sich dieser Trend historisch herausgebildet hat. Dabei geht es im Wesentlichen um folgende Aspekte:

  • Beginn der Psychoanalyse mit Sigmund Freud um 1900 in Wien. Die Psychiatrische Universitätsklinik «Burghölzli» Zürich, ihre prominenten Vertreter und die Ausbreitung verschiedener psychotherapeutischer Denkrichtungen und Methoden.
  • Die Politisierung der Psychotherapie nach dem zweiten Weltkrieg am Beispiel des «Kränzli» um Paul Parin und des Psychoanalytischen Seminars Zürich (PSZ).
  • Der «Psychoboom» und die schwierige Abgrenzung der Psychotherapie zu sektenähnlichen Lehren in den 1970er-Jahren.
  • Erste gesetzliche Regelungen zur nichtärztlichen Psychotherapie und die Gründung des Schweizerischen Psychotherapeuten-Verbandes (SPV) am 4. März 1979. Der SPV, heute ASP, war der erste Verband der praktisch tätigen Psychotherapeuten in der Schweiz.
  • Das Monopol der Ärzte im Gesundheitswesen, die zunehmende Verwissenschaftlichung der Psychotherapie und die sogenannten WZW-Kriterien (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit).
  • Delegierte Psychotherapie – eine aus der Not entstandene Sonderform.
  • Die Schweizer Charta für Psychotherapie: Das Bemühen um eine Definition der Psychotherapie.
  • Der politische Kampf um die Einführung des neuen Krankenversicherungsgesetzes (KVG) im Jahr 1996 und um das neue Bundesgesetz über die Psychologieberufe (PsyG) vom 1. April 2013.
  • Psychotherapie heute: Psychische Krankheit, Psychotherapie und ihre öffentliche Wahrnehmung.

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Walter Aeschimann ist freischaffender Historiker und Publizist. Er hat im Auftrag der Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (ASP) zu dessen 40jährigem Jubiläum eine historische Schrift zur Geschichte der Psychotherapie in der Schweiz verfasst. Walter Aeschimann. Psychotherapie in der Schweiz. Vom Ringen um die Anerkennung eines Berufsstandes. Jubiläumsschrift 40 Jahre ASP. Zürich 2019.

Zum Infosperber-Dossier:

PraxisPsychotherapie

Streit um die Psychotherapie

Der Konflikt zwischen Ärzten und Psychologen ist fast so alt wie die Psychotherapie selbst.

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5 Meinungen

  • am 28.04.2019 um 11:45 Uhr
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    Seit der Ausformung unserer Form der Medizin in der griechischem Antike, im Corpus Hippocraticum, haben wie Regeln, was die Ethik der Medizin und den Umgang mit den Kategorien Medizin, Krankheit und im weiteren Sinn Gesundheit betrifft.
    Der Beruf des Arztes ist ein Heilberuf, der einzige Heilberuf. Alle anderen, die noch am Patienten arbeiten, gehören Gesundheitsberufen an. Das hat die Konsequenz, dass nur Ärzte Krankheiten behandeln dürfen. Aber Krankheiten sind selten in der Medizin, meist haben die Patienten nur Gesundheitsstörungen ohne Krankheitswert. Das trifft auch auf die Psyche zu. Wenn überhaupt, gibt es nur eine psychische Krankheit, die Psychose, oder wahrscheinlicher gar keine.
    Psychische Störungen ohne Krankheitswert können auch Nichtärzte behandeln. Nur muss zuvor ein approbierter Arzt das Vorliegen einer Krankheit ausschliessen. Psychologen können weder nichtpsychische Ursachen, Begleitungen noch Folgen von psychischen Störungen diagnostizieren. Dafür sind sie nicht ausgebildet. Sie können auch nicht systemisch, z.B. medikamentös, therapieren.
    Aus allem folgt, das Nichtärzte, egal ob Psyche, Unfälle, Schwangerschaften nur delegiert, niemals selbstständig therapieren können. Sie haben keinen Heil-, sondern einen Gesundheitsberuf.

  • am 28.04.2019 um 14:34 Uhr
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    Sehr geehrter Herr Aeschimann!
    1. Es wäre wichtig, wenn Sie den Berufsweg der psychologischen oder heute «eidgenössisch anerkannten Psychotherapeutin» im ersten Teil Ihres Artikel ebenfalls klar aufzeigen würden, so wie Sie den Weg über das Medizinstudium und fachärztlicher Weiterbildung dargestellt haben.
    2. Passen Sie auf, dass Sie aus Ihrer SPV/ASP-Sicht die Rolle der FSP nicht runterspielen. – Ich war auch mal Mitglied im damaligen SPV – als Verhaltenstherapeut nota bene – und als ich später berufspolitisch aktiv in der FSP war, wurde ich buchstäblich rausgeworfen. Später hat es sich immer mehr gezeigt, dass die ASP eine antiquierte Stellung einnimmt, die der heutigen Entwicklung in der Psychotherapie nicht mehr gerecht wurde.

  • am 28.04.2019 um 17:56 Uhr
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    Finde ich toll, dass dieser Streit nun öffentlich ausgetragen werden soll. Hoffentlich gewinnen die Psychothrapeuten. Ich selber berate psychotherapeutisch in 10 Sitzungen ein Problem – danach gibt es Pause, wo sich der Erfolg konsolidieren muss – sonst passt die Methode nicht – und das könnte echt günstiger sein, als die 5-12 Jahre Tiefen-Psychologische Therapie von bisher anerkannten medizinisch geschulten Psychologen und Psychiatern.

  • am 29.04.2019 um 20:46 Uhr
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    Herr Schrader, Sie erscheinen mir sehr sehr überheblich. Von den Schulmedizinern kann ich selber nur jene ernst nehmen, welche auch Akupunktur oder Komplementär-Medizin verstehen und einsetzen – ausser den Chirurgen, welche ich sehr wertschätze für Ihre Kunst.

  • am 1.05.2019 um 09:29 Uhr
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    Sehr geehrter Herr Schrader, Ich weiss nicht woher Sie ihre Informationen haben, aber Sie beschreiben teilweise Begriffe oder Sachverhalte widersprüchlich oder gar falsch. Was eine psychische Krankheit ist, ist im DSM-V und ICD-10 international geregelt. Psychosen (übrigens keine Diagnose, sondern ein Sammelbegriff) sind nur eine von hunderten psychischen Erkrankungen. Eine psychische Störung nach ICD-10 ist per Definition eine Erkrankung. Dass Psychologen psychische Erkrankungen nicht diagnostizieren oder behandeln könnten, ist falsch. Mehrere Semester Psychopathologie neben dem Hauptstudium in klinischer Psychologie, fünf Jahre Therapieausbildung, klinische Erfahrung und ihre Kenntnisse in Testpsychologie befähigen sie sehr wohl dazu. Manchmal wenden sich gerade Psychiater an Psychologen für eine Testung, wenn sie sich im Diagnostizieren unsicher sind. Nur spricht man Psychologen im gegenwärtigen Delegationsmodell juristisch die Befähigung zum selbständigen Diagnostizieren und Behandeln in der Grundversicherung ab. Das ist das Problem. Ausserdem therapieren wir in der Psychotherapie keine Unfälle und schon gar nicht Schwangerschaften, die hoffentlich nicht als Erkrankung betrachtet wird. Weiter ist gerade eine einseitige medikamentöse Behandlung bei psychischen Erkrankungen wie sie in manchen medizinisch, psychiatrischen Behandlungen vorgenommen wird, gerade keine systemische Behandlung.

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