SoZ_Grippetote_Front

Untertitel: Sie sterben, weil «sie sich beim Pflegepersonal oder bei den Ärzten angesteckt haben» © tamedia

SoZ: Übertriebene Attacke aufs Spitalpersonal

upg /  «Bis zu» 300 Patienten sterben an Influenza, weil sie Ärzte und Pflegepersonal angesteckt hätten. Das ist nur die halbe Wahrheit.

Titel und Lead auf der Frontseite der «Sonntags-Zeitung» SoZ über «bis zu» 300 Todesfälle von Patienten, die sich im Spital mit einem Influenza-Virus anstecken, geben die Schuld vollumfänglich den nicht geimpften Ärzten und Pflegenden: «Angesteckt haben sie sich beim Pflegepersonal oder bei den Ärzten». Grund: Nur rund zwanzig Prozent des Spitalpersonals sei gegen Grippe geimpft.
Für die Zahl der Influenza-Toten stützte sich die SoZ auf Medizin-Professor Andreas Widmer, Präsident der Spitalhygiene-Vereinigung «Swissnoso». Dieser habe Untersuchungen im Universitätsspital Genf auf die ganze Schweiz hoch gerechnet und sei zum Schluss gekommen: «In der Schweiz sterben jedes Jahr 100 bis 300 Patienten, weil sie im Spital mit Grippe infiziert werden.» Daraus machte die SoZ «bis zu 300» Todesfälle. Angesteckt worden seien diese Patienten allerdings nicht nur von Ärzten und Pflegefachleuten, erklärte Professor Widmer, sondern auch von «Besuchern».
Die «tiefen Impfquoten des Personals» seien die «Hauptursache für die Todesfälle», behauptete die SoZ im Artikel, ohne dass sich die Zeitung auf statistische Daten stützt. Im Untertitel auf der Frontseite schrieb die SoZ sogar, alle «bis zu 300» Gestorbenen hätten sich von Ärzten oder Pflegenden anstecken lassen.
Im Folgenden hackte die SoZ auf zwei Seiten und in einem zusätzlichen grossen Kommentar fast nur noch auf dem Spitalpersonal herum. «Ärzte und Pflegefachkräfte als Totengräber» hiess der Titel des Kommentars.

Zuerst eine Einordnung: In der Schweiz sterben jedes Jahr rund 2000 Patientinnen und Patienten an irgendeiner Infektion, die sie in einem Spital auflesen. Das schätzte «Swissnoso». An «100 bis 300» davon sind laut Professor Widmer Infektionen mit Influenza-Viren schuld. Über das viel grössere Risiko anderer Infektionen hat Infosperber schon mehrmals berichtet. Mindestens 15’000 Spitalpatienten erkranken an einer Infektion. Rund die Hälfte all dieser Infektionen könnten die Spitäler mit Hygiene- und Sicherheitsmassnahmen vermeiden.
Ansteckungen höchstens zur Hälfte übers Spitalpersonal
Kranke in Spitälern können sich, wie von Professor Widmer und im ganzen SoZ-Artikel dreimal kurz erwähnt, auch von Besuchern anstecken lassen. Eine andere Ansteckungsquelle sind andere Patienten, die im gleichen Zimmer gepflegt werden.
SoZ-Autor Titus Plattner räumt gegenüber Infosperber ein: «Man weiss nicht, welcher Anteil der in Spitälern angesteckten Patienten von Besuchern und welcher Anteil den Grippe-Virus vom Personal erwischt hat.» Es gäbe praktisch keine Literatur darüber. Eine Studie in Japan habe ergeben, dass das Spitalpersonal für die Hälfte der Fälle verantwortlich sei.
In der Schweiz machen Besucherinnen und Besucher vielleicht einen noch grösseren Anteil an den Ansteckungen aus, weil sie Kranke viel häufiger umarmen und küssen als dies in der japanischen Kultur üblich ist. In Schweizer Spitälern können Besucherinnen und Besucher sogar während einer Grippe-Epidemie ohne Kontrollen zu ihren Angehörigen. Kinder können hustend und niessend um die Spitalbetten springen.
«Um herauszufinden, von wem sich die Patienten im Spital angesteckt haben, bräuchte es eine gründliche Untersuchung», sagt Anne Iten, Lead-Autorin der Genfer Studie.
Eine Massnahme, die sich aufdrängt:
Während der akuten Grippephase sollten alle Besucherinnen, Besucher sowie das Spitalpersonal Mund- und Nasenmasken tragen. Das ungeimpfte Spitalpersonal ist in Genf heute verpflichtet, eine Mund- und Nasenmaske zu tragen (siehe Foto oben).
In vielen Zahnarztpraxen ist es ein Qualitätszeichen, wenn der Zahnarzt und sein Personal Mund- und Nasenmasken tragen.
Erkrankungen und Todesfälle trotz Impfungen
Mit keinem Wort thematisierte die SoZ die Eigenverantwortung der Patientinnen und Patienten. Sie können sich selber impfen lassen, so dass eine Influenza-Erkrankung mindestens schwächer verläuft.
SoZ-Autor Titus Plattner gibt zu bedenken, dass die Wirksamkeit vom Impfschutz «bei Kranken oder älteren Menschen auf etwa 50 Prozent sinkt». Deshalb verbessere die Impfung des Pflegepersonals den Schutz der Patienten vor einer Ansteckung noch erheblich, auch wenn die Patientinnen und Patienten gegen Grippe geimpft sind. Zu diesem Schluss kam zum Beispiel eine Studie im «British Medical Journal».
Wie viele der im Spital an Influenza Erkrankten, und wie viele der «bis zu 300», die daran gestorben sind, gegen Grippe geimpft waren, darüber informierte die SoZ nicht. Professorin Claire-Anne Siegrist, Infektionsspezialistin am Genfer Universitätsspital, erklärte gegenüber Infosperber vage, «zwischen 10 und 30 Prozent» der an Grippe erkrankten Patientinnen und Patienten seien geimpft gewesen. In der Impfsaison vorher (2012/2013), für die eine genaue Auswertung vorliegt, waren 23 Prozent sicher geimpft und weitere 47 Prozent möglicherweise*.
Teilweises Impfobligatorium
Zu Recht fordert die SoZ, dass die einzelnen Spitäler veröffentlichen sollten, was sie gegen Influenza-Ansteckungen vorkehren, und zu wie vielen Grippe-Erkrankungen und Grippe-Todesfällen es jedes Jahr gekommen ist, die auf Ansteckungen im Spital zurückzuführen sind.
Schweizer Spitäler behaupten gerne, sie seien qualitativ mit denen in Holland oder Skandinavien vergleichbar. Doch mit Zahlen belegen können sie es nicht.
«Swissnoso»-Präsident Andreas Widmer fordert in der SoZ ein Impfobligatorium für das Spitalpersonal, das in «Hochrisikoabteilungen» mit besonders schwachen Patienten arbeitet: «Wir haben heute in der Medizin die absurde Situation, dass wir einem 65-Jährigen zwar ein neues Hüftgelenk einsetzen, er aber an der Grippe erkranken kann, weil in seinem Alter dieses Risiko hoch ist.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Arztfehler_Schere

Vermeidbare Arzt- und Spitalfehler

In Schweizer Spitälern sterben jedes Jahr etwa 2500 Patientinnen und Patienten wegen vermeidbarer Fehler.

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5 Meinungen

  • Portrait_Jrg_Schiffer
    am 9.01.2015 um 11:28 Uhr
    Permalink

    Wer garantiert, dass geimpftes Spitalpersonal Grippeviren nicht übertragen kann? Die Grippeimpfung bietet nur einen partiellen Schutz und führt teilweise zu einem milderen Verlauf der Grippe und damit möglicherweise zu keinem Arbeitsausfall. Die Ansteckungsgefahr von geimpftem Pflegepersonal müsste untersucht werden. Der Glaube, nicht anstecken zu können, könnte zu largeren Vorsichtsmassnahmen führen!

  • am 9.01.2015 um 11:58 Uhr
    Permalink

    Weshalb lassen sich nur 20 bis 30% des Spitalpersonals gegen Grippe impfen? Ich nehme an, diese Fachleute habe objektive Gründe. Darin habe ich mehr Vertrauen als in die Verkäufer der Impfdosen.
    Gibt es eigentlich wissenschaftliche Be- oder Hinweise auf die Wirksamkeit von Impungen? Ich lese immer nur von Schätzungen oder Vermutungen.
    Wie im aktuellen Fall, wo Promotoren durch eine Erhöhung der Impfrate beim Personal um 5 bis 10 % (also auf eine Impfrate von ca 35-40%) mehr tödlich verlaufende Infektionen vermeiden wollen, als es überhaupt gibt. Wissenschaftliche «Rechenkunst"?

  • am 9.01.2015 um 21:34 Uhr
    Permalink

    Wenn man die Aussagen der Impfpromotoren der letzten betrachtet, fällt vor Allem auf, dass sich die Argumentation dahingehend entwickelt hat, dass jetzt der Nichtgeimpfte zum Asozialen gestempelt wird.
    Die jahrelange Verkaufstrategie der Anpreisung der Vorteile FÜR den Geimpften hat nicht gefruchtet. Jetzt zielt die Propaganda GEGEN den Nichtgeimpften. Vor ein paar Jahren hat die Runde im srf-Club mehrheitlich gelacht, als Stadler diese Karte zückte. Jetzt bewegen uns auf einen schleichenden Impfzwang zu.

  • am 11.01.2015 um 19:24 Uhr
    Permalink

    Dieser Artikel ist wohltuend sachlich, dies im Gegensatz zum Beitrag der Sonntags-Zeitung.
    Die Wirksamkeit der Grippeimpfung ist allem Anschein nach nicht so genau erforscht. Wenn man den Quellen nachgeht, stösst man ständig auf Empfehlungen, Meinungen sowie Schätzungen, die auf irgendwelchen anderen Studien beruhen. Wirklich saubere Studien (so im Stil: eine Armee lässt einige Einheiten impfen, andere Kontrolleinheiten jedoch nicht) scheinen wirklich Mangelware zu sein.
    Vielleicht hat einfach niemand Lust, es genauer zu wissen. Die Impfstoffe haben ja die Marktzulassung. Möglicherweise befürchten die Hersteller, dass die Ergebnisse einer guten Studie nicht unbedingt Werbung für die Grippeimpfung wären…

  • am 14.01.2015 um 16:44 Uhr
    Permalink

    Guten Tag in die Redaktion
    Wir haben eine Erhebung gestartet (ausgearbeitet mit Pflegefachleuten), die das BAG schon längst hätte durchführen müssen, aber vermutlich das Ergebnis fürchtet.
    http://impfentscheid.ch/umfragen/umfrage-grippeimpfung-und-erfahrungen/
    Wir bitten um Mithilfe in der Verteilung, damit wir so viele Rückmeldungen erhalten wir möglich.
    Besten Dank
    Daniel Trappitsch

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