Kommentar

Anschlagsopfer! Und die Kriegsopfer?

Urs P. Gasche © Peter Mosimann

Urs P. Gasche /  Der (Terror-)Anschlag verursacht eine enorme Resonanz. Im Kontrast dazu lösen unschuldige Kriegsopfer wenig Betroffenheit aus.

Zuerst einige Fakten:

  1. Ein in England geborener, sozial und sexuell frustrierter, wahrscheinlich ideologisch verführter und angestifteter Secondo ermordet in Manchester 22 Kinder und Jugendliche und verletzt 59 weitere.
  2. Die SRF-Tagesschau berichtete um 19.30 Uhr insgesamt 13 Minuten lang über diesen (Terror-)Anschlag, mit ausführlichen «Verurteilungen» von Bundesrätin Doris Leuthard, Donald Trump, Angela Merkel und Emmanuel Macron: Alle wollen den «Terror» noch stärker bekämpfen und betonen gleichzeitig, dass solche Anschläge nie ganz verhindert werden können.
  3. Seit Monaten bombardiert in Jemen eine US-gestützte saudische Koalition namentlich die ganze Infrastruktur des Landes wie Wasser- und Stromversorgung, Brücken, Schulen und Spitäler. Tausende von unschuldigen Kindern, Jugendlichen und Familien sind ums Leben gekommen, schwer verletzt oder hungern. Nach Angaben von Dominik Stillhart vom IKRK sind bereits 11’000 Menschen an Cholera erkrankt. Wochenlang haben die SRF-Tagesschau und viele grosse Schweizer Zeitungen über den Krieg in Jemen und die vielen unschuldigen Opfer kaum berichtet. Auch von Leuthard, Trump, Merkel oder Hollande war und ist nichts zu hören.
  4. Nach der rücksichtslosen Vertreibung des IS aus dem syrischen Aleppo durch die Russen – unter Inkaufnahme vieler Opfer unter der Zivilbevölkerung – geschieht seit Monaten Ähnliches im irakischen Mossul. Der IS missbrauchte die Zivilbevölkerung auch dort als Schutzschild und verhinderte, wenn immer möglich, deren Evakuation und Flucht. Das Vertreiben des IS aus dem Westteil mit anfänglich 750’000 Einwohnern durch das von den USA gelenkte irakische Militär geschieht – auch aus den genannten Gründen – ohne grosse Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Eine strenge Kontrolle des Informationsflusses hat mit dazu geführt, dass beispielsweise die SRF-Tagesschau über dieses Drama wochenlang nicht informierte (siehe «Die SRF-Tagesschau und das Drama in Mossul» vom 11.4.2017).
  5. Weitere Kriege wüten zur Zeit im Südsudan, in Somalia, Afghanistan und anderswo. Die vielen unschuldigen zivilen Opfer, darunter viele Kinder und Jugendliche, bringen es bei uns nur ausnahmsweise in die Schlagzeilen. Diese Kriege sind mit ein Grund für die Flüchtlingswelle nach Europa.

Dazu einige Fragen:

  • Warum lösen vereinzelte (Terror-)Anschläge in Europa in den Medien und bei den Politikern eine derart breite Resonanz aus, während die vielen zivilen Opfer von Kriegen nur selten eine Erwähnung finden?
  • Warum wird nicht heftig darüber debattiert, wie Kriege beendet werden können? Und warum nicht darüber recherchiert und informiert, wer die Kriege finanziert und wer die Waffen liefert?
  • Schürt die Art und Weise der Information über die Terroranschläge in Europa irrationale Ängste, welche Regierungen dazu ausnützen können, Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger ungebührlich einzuschränken?

Medien spielen IS in die Hände
Nach dem Attentat in Manchester schickte die ARD sogleich Reporter an Eingänge von Konzertanlässen in Deutschland und fragte Besucherinnen und Besucher, ob sie keine Angst hätten, die Konzerthalle oder das Stadion zu betreten – als ob sie Angst haben sollten oder dann besonderen Mut zeigen müssten.
Tatsächlich ist die Gefahr, wegen eines Terroranschlags ums Leben zu kommen, in Europa vergleichbar mit dem Risiko, durch einen Blitz getroffen zu werden. Tim Harford, britischer Ökonom und Kolumnist der «Financial Times» hat die Wahrscheinlichkeiten, während eines Jahres ums Leben zu kommen, für die USA wie folgt ermittelt:
1: 9’000 durch Verkehrsunfall;
1: 20’000 durch Mord oder Totschlag;
1: 10’000’000 durch einen terroristischen Anschlag.

Terrorangriffe und -attentate können kein westliches Land aus den Angeln heben. Das Ziel des IS und der Terroristen besteht darin, eine irrationale Angst zu verbreiten und zu irrationalen Reaktionen zu verleiten. Das scheint ihnen zu gelingen. Jeder kleinere und grössere Amokläufer bringt es zu Sondersendungen und aufgeblasenen Terror-Schlagzeilen.


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12 Meinungen

  • am 24.05.2017 um 13:20 Uhr
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    Wer möchte den Kriege beenden, an denen es sich so trefflich verdienen lässt? Wir zusätzlich die eigene Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt sind hohe Militärausgaben legitimiert

  • am 24.05.2017 um 14:04 Uhr
    Permalink

    Zudem bieten solche anschlaege den fuehrenden politikern die gelegenheit sich mit den ueblichen betroffenen worten zu profilieren….

  • am 24.05.2017 um 14:18 Uhr
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    Ich wundere mich eigentlich nur, dass sich UPG so wundert, kennt er doch das Medien-Business und seine verquere, oft menschenverachtende Logik nur allzu gut, treffende Antworten auf seine Fragen eingeschlossen.

  • am 24.05.2017 um 15:13 Uhr
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    Herr Gasche, mit diesem Artikel bzw Vergleich zum Attentat in Manchester enttäuschen Sie mich. Ihre Statistik mag zwar wahr sein, doch denke ich, dass diese samt Kommentar zu einem solch ab-scheulichen Attentat nicht angebracht ist.
    Rolf Burri,

  • am 24.05.2017 um 16:12 Uhr
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    @Burri. Man wünschte sich solch – berechtigte – Entrüstung über die direkt oder indirekt ursächlichen Kriege, verursacht durch eine profitgierige Waffenlobby

  • am 24.05.2017 um 21:52 Uhr
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    Solche Attentate sind zweifellos abscheulich. Die intesive Bewirtschaftung durch die Medien nützt den Opfern aber nichts. Dafür spielt sie, wie U.P. Gasche richtig feststellt, den terroristischen Organisatoren in die Hände. Denn die Verbreitung von Schrecken und die endlose Nennung des Namens der Organisation ist ja genau der Zweck des Anschlages. Man kann wohl sagen, dass durch eine solche Berichterstattung der Anreiz für einen nächsten Anschlag verstärkt wird.
    Dass Katastrophen in der Nähe uns mehr beschäftigen als solche weit weg mag zynisch sein, aber es ist wohl in der menschlichen Psyche ziemlich tief verankert. Ich glaube nicht, dass sich das ändern lässt.

  • am 25.05.2017 um 06:15 Uhr
    Permalink

    Urs P. Gasche kann man nur zustimmen. Die Opfer der Bombardierungen, die Toten und Verletzten der furchtbaren Kriege, ausgefochten mit Waffen aus den Industrieländern, werden in der Berichterstattung der Medien nur am Rande erwähnt.

    Der Schweizer Terrorismusexperte Jacques Baud ist der Meinung, die Terroranschläge im Westen seien eine Reaktion auf die fatalen Destabilisierungen durch die Militärinterventionen in Afghanistan, dem Irak in Libyen usw. Baud, Oberst des Generalstabes, ehemaliger Analyst des Nachrichtdienstes wurde vom französischen Fernsehsenders TV5 2016 interviewt. (http://www.voltairenet.org/article192675.htmls) Baud ist der Verfasser des Buches «Terrorisme, mensonges politiques et stratégies fatales de l’occident» Édition du Rocher, 2016

    Klar ist meiner Meinung: Am meisten schaden Terroranschläge, bei dem jetzt sogar Kindern bei diesem Konzert in Manchester umkommen sind, sind islamistische Gruppierungen die gegen Militärinterventionen des Westens kämpfen, aber auch allen Menschen islamischen Glaubens. Der Terror ist Wasser für die Aufrüstung und ist das Dümmste was Islamisten überhaupt machen können.

    In Betracht ziehen muss man immer auch: Es gab immer auch schon Terrorakte unter falscher Flagge, wie zum Beispiel 1969 in Bologna, die den Linken in die Schuhe geschoben wurde. Siehe dazu auch das Buch: Elias Davidsson, Psychologische Kriegsführung und gesellschaftliche Leugnung. Die Legende des 9/11 und die Fiktion der Terrorbedrohung.

  • am 26.05.2017 um 17:33 Uhr
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    Ja diese Frage, stelle ich mir nicht nur seit heute, sondern schon seit vielen Jahren. Alleine seit dem Ende des 2 WK hat der Westen mit seinen gerade einmal 10% dr Weltbev�lkerung, mehr als 40 illegale Kriege mit Millionen Get�teten gef�hrt.

    Auch heute werden illegale Kriege gef�hrt siehe Syrien und anderswo. wie viele illegale Putschs, sprich ohne UN Mandat somit also v�lkerrechtswidrig wurden im Rest der Welt durchgef�hrt? Der t�gliche illegale Drohnen, Bomben und Wirtschaftsterror im Rest der Welt ist im Westen kaum ein Thema. Dem Westen ging und geht es nie um Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Demokratie oder Menschenrechte, sondern einzig und alleine um Geopolitische Interessen. Daf�r war und ist dem Westen jedes Mittel Recht.

    Wie schrieb schon Jean Ziegler in seinem Buch: �Der Westen ein Imperium der Schande� treffender kann man es wohl nicht auf den Punkt bringen.

  • am 26.05.2017 um 19:55 Uhr
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    @Heinrich Frei
    Die Argumentation, dass islamistische Milizen zu den Leidtragenden von islamistischen Terroranschlägen gehörten, finde ich doch recht verquer (oder habe ich Sie falsch verstanden?). Die Leidtragenden sind, ausser den direkten Opfern, vor allem die «normalen» Muslime. Die meisten von ihnen wünschen sich auf keinen Fall eine Herrschaft religiöser Fanatiker. Ich glaube, es ist verfehlt, alle Konflikte im nahen Osten als Abwehrkampf von Islamisten gegen den bösen Westen darzustellen. Die Assad-Diktatur beispielsweise wurde und wird nicht vom Westen, sondern von den Sowjets/Russen unterstützt.
    Ich bestreite keineswegs, dass die Invasion der Amerikaner in den Irak ein Verbrechen war, und eine monumentale Dummheit dazu. Ich bezweifle jedoch stark, dass im Nahen Osten schon bald Friede einkehren würde, wenn sich der Westen heraushalten würde.

  • am 26.05.2017 um 20:54 Uhr
    Permalink

    Daniel Heierli hat recht: «Die Leidtragenden sind, ausser den direkten Opfern, vor allem die «normalen» Muslime. Die meisten von ihnen wünschen sich auf keinen Fall eine Herrschaft religiöser Fanatiker»

    Terroranschläge in der westlichen Welt finden wie Gasche vermerkt grössere Resonanz als Kriegsopfer in fernen Ländern. Die Frage wird dann oft auch gestellt: «Wie können in so friedlichen Gesellschaften, wie jetzt in Grossbritannien, Massenmörder heranwachsen.» Grossbritannien: Friedlich? Grossbritannien beteiligte sich im Rahmen der Nato 1999 am Kosovokrieg, 2001 am Afghanistankrieg, 2003 am Krieg im Irak und 2011 am Krieg in Libyen und jetzt am Krieg in Syrien. Hunderttausende wurden in diesen Kriegen ermordet.

    Der im März 2011 begonnene sieben Monate dauernde Lufteinsatz gegen Gaddafis Libyen der Nato soll laut dem deutschen Fernsehsender ARD in Libyen 90‘000 Menschen, vor allem Zivilisten, das Leben gekostet haben. Die Nato, mit Grossbritannien und arabische Staaten flogen in diesem Krieg 26‘323 Lufteinsätze und 9‘658 Bombenangriffe.

    Frei nach dem deutschen Schriftsteller Kurt Tucholsky kann man sagen: „Da gibt es eben Kriege in Ländern, in denen Mord zulässig ist, während in Grossbritannien Mord streng verboten ist. »

    Zum Massaker in Manchester: Warum war in den USA der Name des Attentäters schon vier Stunden nach dem Anschlag bekannt?

    Siehe: «Manchester Bombing: What We Don’t Know»

    http://www.globalresearch.ca/manchester-bombing-what-we-dont-know/5591844

  • am 27.05.2017 um 12:06 Uhr
    Permalink

    Bravo, Herr Gasche, dass Sie historische Zusammenhänge herstellen.
    Aber man kann und sollte in unseren Medien diese Zusammenhänge vertiefen:
    – die Mittel für die viktorianische, innovative englische Industrie kamen (neben der Kinderarbeit in den walisischen Kohleminen) aus den Kolonien, zuerst aus Sklavenhandel, dann z.B. aus den indischen Textilfabriken (mit Kinderarbeit). Anders gesagt, die Entwicklung der Dampfmaschine beruht direkt auf Kinderarbeit.
    – Seit meiner Kindheit lese ich von kolonialen Verbrechen – die dann schnell durch den Journalismus verwischt werden: Anfang der 50er-Jahre – ich war noch ein Kind – musste mein Vater mir erklären das die Mau-Mau in Kenia Leute waren, die für ihr Land kämpften nicht das als was sie selbst der Spiegel denunzierte: Leute «die nach nächtlichen Schwüren bei Ochsenblut und toten Katzen Vieh und Frauen weißer Siedler zerhackten und schwarze Mau-Mau-Feinde massakrierten.» In diesem Krieg der mit Maschinengewehren gegen mit Speer und Schild bewaffnete Krieger geführt wurde, starben nach offiziellen Angaben – neben 63 Soldaten und 33 Siedlern – 11.500 Kenianer; Schätzungen aktueller Forschungen bewegen sich zwischen 20.000 und 100.000. Die Zahl der Internierten schätzten Historiker auf 150.000 bis auf 1,5 Millionen.
    Das ist neuere britische Geschichte und hätte von unsern Jubel-Journalisten bei z.B. SFR -wie vieles andere- zum Thronjubiläum von Lizzi II vielleicht erwähnt werden können. Wenn dort Journalisten arbeiten würden…

  • am 1.06.2017 um 12:47 Uhr
    Permalink

    Man kann den Manchester-Attentäter schon «Secondo» nennen. Man kann aber auch darauf hinweisen, dass er seine Wurzeln in Libyen hat. Dem Land, das unter anderem von Grossbritannien im Namen von Freiheit und Menschenrechten zerstört wurde. Vom wohlhabendsten Land Nordafrikas zu einem bis heute rauchenden Trümmerfeld innert weniger Monate.

    Man darf annehmen, dass den Attentäter diese Ereignisse nicht kalt liessen. Man darf auch annehmen, dass er Verwandte dort hatte.

    Natürlich reicht das alles noch nicht, um jemanden dazu zu bringen, seinerseits zum wahnsinnigen Mörder zu werden. Aber jemand, der labil ist, der in einer Krise steckt, vielleicht auch keine Lebensperspektiven sieht, kann von so etwas durchaus beeinflusst werden.

    Die westlich Wertegemeinschaft betrachtet sich als «im Kriegszustand» mit einem nicht exakt definierten Teil der arabischen Welt. Sie führt diesen Krieg mit Bomben, denen auch Zivilisten zum Opfer fallen. Das sei im Krieg eben so und könne nicht verhindert werden, sagt man uns. Doch wenn die Bekriegten ihrerseits bei uns eine Bombe zünden, dann ist das keine Kriegshandlung mehr, dann ist es Terror.

    Wieso gelten die Bomben, die wir auf Zivilisten werfen, nicht als Terror, die Bomben, die bei uns Zivilisten treffen, aber schon? Sind irakische und libysche Leben weniger wert, als englische, französische und deutsche Leben?

    Die westliche Wertegemeinschaft sollte sich derartigen Fragen stellen, statt jeden zu beschimpfen, der sie stellt.

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