Kommentar

kontertext: Kritiker-Schelte fürs Musiktheater mit Mozart

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Streit um Mozart in Genf. Je weiter weg von Genf, umso aufgeschlossener scheint die Kritik. Und unser Kulturradio schweigt.

Ein erster Hinweis, dass am Genfer «Grand Théâtre» ein brisantes Opernexperiment stattfindet, kam von Radio Suisse Romande La Première, und das war auch gleichzeitig schon die erste Merkwürdigkeit, denn das erste Deutschschweizer Radioprogramm würde wohl kaum auf eine riskante Opernpremiere hinweisen.
Der zweite Hinweis war ein Totalverriss in der Welschschweizer Zeitung «Le Temps»…
Worum geht’s? Um Mozarts Oper «Die Entführung aus dem Serail» mit wunderbarer Musik und einem unerträglich rassistischen und sexistischen Libretto, das munter die Überlegenheit des Westens und des Christentums über Türkei und Islam zelebriert. «Vom Mohrenland ist (…) die Rede, von einem türkischen Harem wird berichtet, in dem ein lächerlich furchterregender Moslem zwei junge Frauen christlichen Glaubens gefangen hält, von einem grossmütigen Herrscher, der für eine andere, eine aufgeklärte Art Islam steht – und das alles vorgetragen im Ton einer harmlosen Komödie», so der Musikkritiker Peter Hagmann.
Radikaler Eingriff
In Genf hat der belgische Regisseur Luk Perceval mit kritischem Blick von heute aus Mozarts Singspiel ein zeitgenössisches Musiktheater gemacht. Mozarts Musik bleibt unangetastet (ganz wenige Nummern sind gestrichen), das gesamte Libretto aber wurde ersetzt durch Texte aus dem Roman «Der wundersame Mandarin», den die türkische Schriftstellerin und Dissidentin Asli Erdogan geschrieben hat, als sie in Genf lebte. Perceval hat des Weiteren die Sängerinnen und Sänger, die jungen Liebenden also, mit gealterten Doubles ausgestattet. Die alten Figuren, von Schauspielern dargestellt, blicken auf die Lieben ihrer jungen Jahre zurück. Die Rolle des grossmütigen Herrschers, der Milde und Menschlichkeit von oben herab walten lässt, ist gestrichen.
Perceval wiederholt nicht noch einmal die oft gehörte, dem Werk doch äusserlich bleibende Kritik an der zeitbedingt überheblichen Mentalität der «turquoiserie». Er thematisiert den Kern der Oper: Die Liebe. Erdogans poetische und Percevals optische Bilder ergeben zusammen mit der Musik eine dichte Collage widersprüchlicher Aspekte des Gefühlsbündels und des Gefühlschaos namens Liebe.
Buh!
Das Premierenpublikum aber war entsetzt. Es verliess scharenweise die Vorstellung. Und zum Schluss gab’s lautstarken Protest.
Die Kritiken waren verheerend, jedenfalls die französischschweizerischen. Die Kritikerin Sylvie Bonier sprach in «Le Temps» von einer Verstümmelung Mozarts. Sie akzeptierte in keiner Weise die Reflexion und Dekonstruktion des Liebesdiskurses. Schmerzlich vermisste sie den gütigen Fürsten, an den sie offenbar noch glaubt. In der «Tribune de Genève» war von Nebelgranaten die Rede. «Forumopera» erhob gar den Vorwurf des Populismus. «La Croix» hielt das Ganze für schwer verständlichen Salat.
Je weiter weg von Genf, umso positiver
In der deutschsprachigen Schweiz mässigten sich die Kritiken, es gab wenigstens korrekte Beschreibungen des Bühnengeschehens. NZZ-Musikkritiker Christian Berzins versteckte sich zwar mutlos hinter den Buhs des Premierenpublikums – ihm hätte ich die Vorstellung empfohlen, die ich gesehen habe: full house und das Publikum war angetan – aber sein Kollege Thomas Schacher lieferte in der NZZ online wenigstens Nachdenkliches. Ihn hat der Abend aus unerfindlichen Gründen total deprimiert.
Lob und Begeisterung kam von weiter her, aus dem Ausland. Die «Süddeutsche Zeitung» lobte die Aufführung, der Deutschlandfunk war sogar begeistert: «Im Premierenpublikum entlud sich die Irritation über die ungewöhnliche Sicht auf Mozarts Singspiel in teils heftigen Buhrufen. Doch die Genfer Entführung macht Mozarts Werk verblüffend abgründig und existentiell. Im Mittelpunkt eine Erfahrung von Fremdheit, Verlorenheit und Migration, die dabei auch musikalisch die fast ein halbes Jahrhundert später aufgeführte ‹Winterreise› von Franz Schubert vorwegzunehmen scheint.»
Je weiter weg von Genf, umso positiver die Einschätzung, umso aufgeschlossener gegenüber modernem Musiktheater – so scheint es jedenfalls!
Köln ist näher bei Genf als Basel
Durch vollständige Abwesenheit in der Sache glänzte das Deutschschweizer Kulturradio SRF 2 Kultur, das den Genfer Opernversuch gar nicht zur Kenntnis genommen hat. Schon wieder eine Merkwürdigkeit: Über das Genfer Operngeschehen werden wir aus Köln informiert, nicht aus Basel.
Und das scheint durchaus ein Trend zu sein. Jedenfalls breitet sich in der Schweizer Kulturszene der Eindruck aus, Deutschlandfunk und WDR 5 informierten zuverlässiger über die Schweizer Kultur als SRF 2. Ob’s stimmt, wäre einmal genauer zu untersuchen.
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    Felix Schneider, geboren 1948 in Basel. Studium (Deutsch, Französisch und Geschichte). Von Beruf Lehrer im Zweiten Bildungsweg und Journalist, zuletzt Redaktor bei SRF 2 Kultur. Hat die längste Zeit in Frankfurt am Main gelebt, ist ein halber «Schwob».

      Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder.

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    2 Meinungen

    • am 5.02.2020 um 12:51 Uhr
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      Würde gerne wissen, was SRF 2 Kultur dazu zu sagen hat. Hat man sie angefragt? Haben sie es eventuell einfach verpasst oder wollte man dieses «heisse Eisen» nicht anfassen. – Dass die Oper Mozarts mit neuen textlichen Inhalten gefüllt wird, erscheint mir ein sehr interessanter Ansatz. Es geht in erster Linie um die Musik. Wer interessiert sich schon wirklich für den Text? Wenn er interessant ist, jederzeit, aber doch nicht dieser, der in seiner Zeit stecken geblieben ist. Mir ist Kultur, die sich auf Experimente einlässt, immer noch sehr viel mehr wert, als die ewige Wiederholung des Immergleichen und erst recht, wenn es so daher kommt.
      Hat einer dieser Kritiker/innen sich schon einmal so heftig daran gestört, dass sich über die Zeit so viele Bühnenbilder geändert haben und dauernd neu interpretiert werden? Wohl eher nicht. Das Buhpublikum soll zuhause bleiben, sich die alten Aufnahmen auf dem Sofa anhören und Platz für eine neue Generation machen, die sich gerade wegen dieses Wagnis neu für die klassischen Werke interessieren könnte.

    • am 5.02.2020 um 15:05 Uhr
      Permalink

      Lieber Herr Schneider,
      Bitte nicht zu schnell verallgemeinern, was die Kritik zu Luk Percevals Inszenierung in den Westschweizer (warum übrigens: «Welschschweizer"???) Medien betrifft.
      Hier der Link zur Kritik in Le Courrier vom 27. Januar 2020:
      https://lecourrier.ch/2020/01/27/ceci-nest-pas-un-serail/
      Hat es nicht ganz ins zum voraus gedachten Schema gepasst?
      Was das Desinteresse des alemannischen (!) Kultursenders betrifft, nehme ich Ihr Urteil zur Kenntnis.
      Mit besten Grüssen
      Bruno Rudolf von Rohr, Le Bémont

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