Zeitumstellung_Front

SRF-Tagesschau: «Die Mehrheit der EU-Bürger will das» © srf

Unstatistik: «80 Prozent der EU-Bürger gegen Zeitumstellung»

Urs P. Gasche /  Online-Umfragen wie diejenige der EU-Kommission sind unseriös. Beim Abschaffen der Winterzeit nahmen vor allem Befürwortende teil.

Es geht um das Abschaffen der Zeitumstellung Sommer/Winter. «Eine Mehrheit der EU-Bürger will das», verbreitete Tagesschau-Moderator Franz Fischlin. Das Schweizer Fernsehen nahm eine Online-Umfrage der EU-Kommission in EU-Ländern am 31. August 2018 zum Anlass, als Aufmacher in der Hauptausgabe der Tagesschau über sechs Minuten lang über das Thema ausladend zu berichten.
Die «News» war eine EU-Umfrage wonach 84 Prozent der Bevölkerungen Europas dafür sind, dass die Sommerzeit das ganze Jahr gelten und die Umstellung auf die Winterzeit abgeschafft werden soll. Die Tagesschau verbreitete sogar die Resultate der einzelnen Länder:

SRF-Tagesschau vom 31. August 2018. Blau in den Kreisen = Wollen Winterzeit abschaffen. Rot = Wollen heutige Regelung mit Sommer- und Winterzeit beibehalten.

Doch stimmt das überhaupt?

«Unstatistik des Monats»

Die Statistiker Professor Walter Krämer der Technischen Universität Dortmund und Professor Gerd Gigerenzer vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung haben die EU-Statistik zur «Unstatistik des Monats» gekürt.

Den Statistikern geht es nicht um das Pro und Contra der Zeitumstellung. Doch die Online-Stichprobe der EU-Umfrage sei alles andere als repräsentativ. Die Hochrechnung auf die 84 Prozent Umstellungsgegner sei deshalb unseriös, und zwar aus folgenden Gründen:

  • Bei der Umfrage wurde kein repräsentatives Sample der Bevölkerungen befragt.
  • Alle konnten selber entscheiden, ob sie an der angebotenen Online-Umfrage mitmachen oder nicht. Das führt bei der angewandten Statistik zu äusserst heiklen Problemen.
  • Im vorliegenden Fall spricht viel für den Verdacht, dass vor allem Gegner der Zeitumstellung, denen das Verstellen der Uhren ein grosses persönliches Ärgernis bedeutet, die Mühe des Ausfüllens des Online-Fragebogens auf sich nahmen. Damit wären die Gegner der Zeitumstellung unter den insgesamt 4,5 Millionen Teilnehmenden der Umfrage überrepräsentiert und die erfolgte Hochrechnung der Gegner zu hoch.
  • Eher unterrepräsentiert sind dagegen Menschen, die alles beim Alten lassen wollen, oder die sich für das Problem nicht interessieren oder keine Meinung dazu haben. Die meisten dieser Menschen nehmen an solchen Umfragen nicht teil.

Die beiden Statistiker halten der EU-Kommission zugute, dass diese nie von einer repräsentativen Umfrage gesprochen habe. Doch viele Medien hätten die über 80 Prozent Gegner – wahrscheinlich zu Unrecht – als Beweis für ein massives Unbehagen an der Zeitumstellung interpretiert.

Die SRF-Tagesschau informierte nicht darüber, dass die Umfrage nicht repräsentativ ist für die tatsächlichen Meinungen in den verschiedenen Ländern.
Sie wandte gegenüber EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lediglich ein, es hätten mit 4,5 Millionen Teilnehmenden nur wenige der Europäerinnen und Europäer mitgemacht [tatsächlich nur 0,89 Prozent der EU-Bevölkerung]. In einigen Mitgliederländern habe die Teilnahme im Promille-Bereich gelegen. Juncker wies diesen Einwand zurück: Die Mitmachenden hätten doch einen Anspruch darauf, dass ihre geäusserten Meinungen auch veröffentlicht würden – ein fragwürdiges Argument.
Schliesslich verbreitete die Tagesschau als Faktum: «Eine Mehrheit der EU-Bürger will das.»
Online setzte SRF noch einen drauf: SRF verbreitete Zahlen einer eigenen Online-Umfrage – ohne explizit darauf hinzuweisen, dass das Resultat keinesfalls repräsentativ ist. SRF-Online titelte «Grosse Mehrheit will Zeitumstellung abschaffen»:


SRF online vom 29.8.2018

Andere grosse Medien
Private TV-Sender informierten nicht besser. Die Schweizerische Depeschenagentur führte die angeschlossenen Zeitungen mit dem Titel in die Irre: «Jetzt offiziell: 84 Prozent für Ende der Zeitumstellung in der EU». Die sda unterliess jeglichen Hinweis darauf, dass die Resultate der EU-Umfrage nicht repräsentativ sind. Hätte sie es getan, hätten wahrscheinlich weniger Zeitungen den sda-Artikel übernommen.
Die News bestand an diesem Tag lediglich darin, dass die EU-Kommission, allen voran Jean-Claude Juncker, die Zeitumstellung abschaffen wollen – mit Hinweis auf die angeblich überwältigende Mehrheit der europäischen Bevölkerungen. Doch die EU-Kommission hat schon vieles vorgeschlagen, was wieder schubladisiert wurde. Trotzdem titelten manche Zeitungen – angeregt durch die angebliche Voksmeinung:
«Das Ende der Zeitumstellung» (Zuger Zeitung);

«Das Ende der Zeitumstellung naht»
(NZZ)

«Für immer Sommerzeit»
(Basler Zeitung)
Korrekt titelten u.a. folgende Medien:
«EU prüft Ende der Zeitumstellung» (Bündner Tagblatt);
«Juncker will die Zeitumstellung abschaffen» (NZZ online)
«Juncker will Winterzeit abschaffen» (SRF online am 31.8.2018)

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Infosperber-DOSSIER: «Irreführende Statistiken aus Medien»
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Unstatistik_Mit_Hintergr

Fragwürdige Statistiken aus Medien

Mit Statistiken und Grafiken sollten Medien besonders sorgfältig umgehen. Beispiele von Unstatistiken.

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SRF Tagesschau in der Kritik

Die Informationssendung mit den meisten Zuschauenden muss sich von kommerziellen Sendern klar abheben.

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9 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 9.10.2018 um 11:48 Uhr
    Permalink

    Von Umfragen ist natürlich wenig bis nichts zu halten. Ich selber habe vor mehr als 40 Jahren bei Isopublic solche auch via bürgerliche Interessengruppen in Auftrag gegebe; selbstverständlich formulierten wir die Fragen so, wie wir die Antworten haben wollten, wobei wir immerhin nicht immer die gewünschten bekommen haben, aber selbst dann hatte das Resultat der Umfrage für uns Manipulationswert. Ich sage das ganz wertfrei nur als Feststellung, Kein kritisch denkender Mensch lässt sich von solchen Sachen bestimmen.

  • am 9.10.2018 um 11:57 Uhr
    Permalink

    Wie war das: Traue keiner Statistik, es seiden Du hast sie selbst gefällscht. Oder wollen wir nun neu Umfragen in „UNFRAGEN“ umtaufen?

  • am 9.10.2018 um 13:08 Uhr
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    Ich bin dafür dass die Sonne Mittags um 12 am höchsten Punkt steht.

  • am 9.10.2018 um 13:58 Uhr
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    Leider ist schon seit langem kaum mehr eine Redaktion in der Lage, den Gehalt einer Umfrage zu beurteilen. Deshalb würde es nicht einmal sehr viel bringen, wenn man den Studiensteckbrief kennen würde. So werden weiterhin Abweichungen von +/- 1% herauf und herunter kommentiert obwohl der Vertrauensbereich +/-2% beträgt und die Ergebnisse somit nicht signifikant sind. Da nützt es auch nicht viel, wenn man den Vertrauensbereich aufführt.

  • am 9.10.2018 um 16:42 Uhr
    Permalink

    Wenn ich mich so umhöre, geht der Trend aber schon deutlich dahin, dass die Menschen die zweimalige Umstellung nicht mehr wünschen. Da wird viel gemeckert. Persönlich ist es mir egal – wenn das wieder abgeschafft wird, muss man nicht mehr dran denken, die Uhren wieder umzustellen.
    Man vergisst immer, dass die Zeit eigentlich eine komplett angenommene Einheit ist. Man hat sie mal festgelegt, aber da wir ja nicht auf den genauen Moment der Entstehung zurückblicken können, hat man irgendwann einmal eine Zeit angesetzt und seither wird danach gezählt.
    Man könnte den Tagesanbruch bei einer Tag- und Nachtgleiche mit 0 Uhr bezeichnen und von da an immer das rechnen. Es wäre auch nur eine Darstellung.

  • am 10.10.2018 um 12:30 Uhr
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    @Luzia Osterwalder: Genau! Mit der heutigen Sommerzeit steht die Sonne um 14 Uhr im Zenit. Die Tierwelt richtet sich nach der Natur, der Mensch vergewaltigt diese und steht mitten in der Nacht auf, um länger bei Tageslicht arbeiten zu können. Absurd!

  • am 10.10.2018 um 12:36 Uhr
    Permalink

    Spannend ist ja die Frage nach Sommer / Winterzeit! Hier ein kleiner Link zum Thema, prinzipiell muss auf Normalzeit also Winter eingestellt werden… Da spielen doch Umfragen und Statisiken keine Rolle mehr –

    https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/forscher-warnen-vor-abschaffung-der-zeitumstellung-wir-werden-dicker-duemmer-und-grantiger-133154337

    Die Forscher und die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) sprechen sich für eine dauerhafte «Normalzeit» aus. «Die bisherige Winterzeit entspricht den Verhältnissen, die unter Berücksichtigung der natürlichen Lichteinflüsse für unseren Schlaf-Wach-Rhythmus am günstigsten ist», sagt der DGSM-Vorsitzende Alfred Wiater. «Wenn wir im Winter am Morgen länger der Dunkelheit ausgesetzt sind, werden wir schlechter wach», sagt Wiater. Das könne Konzentration und Aufmerksamkeit beeinträchtigen und zu mehr Fehlern in der Schule und im Job führen sowie Unfälle begünstigen.

  • am 11.10.2018 um 10:47 Uhr
    Permalink

    Unterschlagen wurde auch der Fakt, dass mehr als 75% aller Teilnehmer aus Deutschland kamen und die anderen Länder nur marginal vertreten waren. Somit kann man getrost sagen, dass es eine rein deutsche Angelegenheit, bwz. rein deutsches Wunschdenken ist. Nein, Deutschland ist nicht der alleinige Bestimmer in der EU, auch wenn manche Deutschen das gerne so sähen und das muss sich auch ein Herr Junker sagen lassen! Wie sagte I.F. Stone so schön: All Governments lie! und das ist hiermit wieder einmal mehr bewiesen.

  • am 11.10.2018 um 11:16 Uhr
    Permalink

    Wenn ich Ihre Artikel auch im allgemeinen schätze, scheint mir hier Ihre Aversion gegen das Schweizer Fernsehen zu einem Beitrag geführt zu haben, dessen Umfang und Bedeutungsanspruch in keiner sinnvollen Relation zum «Fehlverhalten» der Tagesschau steht.

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