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Niklaus Stauss heute – und noch immer mit der Kamera unterwegs © Katharina Luetscher

Sein Leben als Roman – in Bildern

Roger Anderegg /  Seit über 60 Jahren ist er mit der Kamera unterwegs. Ein prächtiger Bildband zeigt jetzt das ausufernde Werk von Niklaus Stauss.

Mindestens in Zürich ist er längst eine legendäre Figur. Kaum ein Kulturanlass – und das seit mehr als 60 Jahren –, an dem er nicht neben dem Podium oder im Hintergrund ‹herumtigert› und sich bei Bedarf auch nach ganz vorne drängt, um die anwesende Prominenz im Bild zu haben. 50’000 Kulturschaffende hat er abgelichtet, x-tausend Ereignissen beigewohnt und zwei Millionen Bilder geschossen. Das sind die Dimensionen, in denen sich Leben und Werk des freien Fotografen Niklaus Stauss, gelernter Jelmoli-Schaufensterdekorateur und inzwischen 80 Jahre alt, bewegen.

Die vertraute Gestalt, gross und schlank, heute vom ständigen Herumhetzen leicht gebückt, erscheint meist in Pullover, Veston oder Windjacke. An diesem Abend des 30. August 2018 aber, im Cabaret Voltaire in Zürich, trägt Stauss weisses Hemd und Krawatte – genau wie damals bei der Ankunft der Rolling Stones 1967 in Zürich-Kloten. Denn heute Abend feiert er seine Buchpremière, und auf dem Umschlag des Prachtbandes erwartet er, damals 50 Jahre jünger, die britische Kultband.

Die Bilder des Vaters…

Er hat sie alle gekannt, die Künstler, Schriftsteller und Musikerinnen, die Schauspieler, Tänzerinnen und Filmregisseure. Wo war er nicht überall dabei! Seine frühen Bilder hatten noch ausgesprochenen «Paparazzo»-Charakter, zum Beispiel Brigitte Bardot 1960 vor ihrer Cabane bei Saint-Tropez (aufgenommen von der schwimmenden Luftmatratze aus), Jazztrompeter Louis Armstrong 1962 in seiner Garderobe im Zürcher Kongresshaus (heute undenkbar), Regisseur Alfred Hitchcock 1963 auf der Croisette in Cannes. Das verliert sich später, denn inzwischen ist der Fotograf eingeführt und bekannt in der Branche; jetzt werden die Bilder beiläufiger, alltäglicher.

1962, Louis Armstrong in der Garderobe im Zürcher Kongresshaus.

Wer tritt da nicht alles auf: die Künstler Jean Tinguely und Joseph Beuys, die Künstlerinnen Manon und Pipilotti Rist, die Schriftsteller Max Frisch, Günter Grass und Patricia Highsmith, die Schauspieler Mathias Gnädinger und Claudia Cardinale. Du lieber Himmel, die ganze Welt ist da – lauter illustre Namen, lauter bekannte Gesichter! Und das in einem langen zeitlichen Rahmen, denn Stauss bleibt den Künstlern in seinen mehr als sechzig Berufsjahren hartnäckig auf den Fersen, und so begegnen sie uns hier in unterschiedlichen Situationen und Lebensphasen. Damit wird der stattliche Bildband auch zu einer wertvollen Chronik, einem Buch der Erinnerungen, einem Buch voller Nostalgie.

Welch eine Fundgrube! Manche von Stauss’ Bildern sind in den Jahren zu eigentlichen Ikonen geworden, so zum Beispiel die Porträts von Peter Bichsel, 1987 in seiner Stammbeiz in Solothurn ins Weissweinglas sinnierend, von Jean Tinguely 1964 beim Aufbau seiner Heureka, von Andy Warhol 1983 an seiner Zürcher Vernissage oder von Max Frisch 1981, zusammen mit Niklaus Meienberg, damals die zornigen Männer der Schweizer Literatur.

1983: Der weltberühmte Künstler Andy Warhol, die JetSet-Kolumnistin Hildegard Schwaninger und der damalige Medien-Quereinsteiger Beat Curti auf dem gleichen Bild!

Niklaus Stauss war und ist sein Leben lang allen Künstlerinnen und Künstlern jeder Disziplin hinterher, sieht sich selber aber eher als Chronist des Augenblicks denn als Künstler. «Ich komme, drücke einfach ab – so, wie es eben gerade ist – und gehe wieder», beschreibt er sein Konzept an der Buchvernissage. Er inszeniert nichts und nötigt seine Objekte auch nicht zu Posen, er ist höchstens um einen günstigen Hintergrund bemüht und um das bestmögliche Licht.

…im Buch der Tochter

Für Verleger Patrick Frey, Gründer und initiativer Geist der Edition Patrick Frey, ist der dicke Bildband «ein eigentlicher Glücksfall»: ein Buch, das viele Künstler zeigt, aber selber nicht Kunst sein will, ein Buch, das nicht von oben kommt, sondern von unten, aus dem Alltag. «Ohne die Tochter hätte ich es nicht gemacht», sagt Frey aber auch.

Tochter Barbara Stauss, 51 und ebenfalls ausgebildete Fotografin, war die treibende Kraft hinter dem Buch und stemmte das Projekt, in steter Zwiesprache und Auseinandersetzung mit dem Vater, während der vierjährigen Entstehungszeit hartnäckig über alle möglichen Hürden. «Das Resultat ist als persönlicher Blick der Tochter auf ihren Vater zu verstehen», sagt die Kuratorin heute. Und Verleger Patrick Frey ergänzt: «Wenn die Tochter ein Buch macht über den Vater, gibt das dem Ganzen eine andere Optik, eine zusätzliche Perspektive.»

Für Barbara Stauss, heute Leiterin der Bildredaktion der Kulturzeitschrft «mare» in Berlin, sind «einzelne Bilder wie Wörter, die zusammen ein Gedicht ergeben oder auch einen Roman». Aus den Bildern ihres Vaters ist definitiv ein Roman geworden, der Roman einer Zeit, der Roman eines Lebens, in dem es von spannenden Kulturereignissen, von wechselnden Schauplätzen und von Helden und Heldinnen nur so wimmelt. Und so ist es richtig und schlüssig, wenn für Barbara Stauss am Ende «das ganze Buch ein Bild» ist – das Bild der Kulturszene der Schweiz und Europas der letzten 60 Jahre, und gleichzeitig das Bild eines von seinem Metier besessenen Fotografen, eines notorischen Jägers und Sammlers.

Barbara Stauss: «Foto: Niklaus Stauss», Bildband, 448 Seiten mit 800 Abbildungen; Edition Patrick Frey, 70 Franken.

… und ein kleiner Nachtrag:

Jetzt hat auch SRF darüber berichtet, zum 4-Minuten-Video hier anklicken.


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Keine.

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