Kommentar

Die amerikanische Verheissung einer «Schwesterrepublik»

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Hans Ulrich Jost /  Historische Anmerkungen zum Besuch von Aussenminister Ignazio Cassis in den USA und zu einem Freihandelsabkommen mit den USA.

Red. Der emeritierte Geschichtsprofessor Hans Ulrich Jost studierte in Zürich und Bern Geschichte und Soziologie. Von 1981 bis 2005 lehrte er an der Universität Lausanne Neuere Allgemeine Geschichte und Schweizer Geschichte.

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Anlässlich seines Besuchs in den USA hat Bundesrat Cassis im Gespräch mit Aussenminister Mike Pompeo und John R. Bolton, dem National Security Adviser, die Idee eines Freihandelsabkommens mit dem Gastland aufgegriffen. Die Idee ist keineswegs neu. Schon im Juli 2005, als Bundesrat Deiss, Chef des EVD, einen Arbeitsbesuch in den USA unternahm, hatte ihn der Bundesrat beauftragt, über ein Freihandelsabkommen zu sondieren.

Zur Zeit dieser Initiative in den USA, 2005, hatte die Schweiz eben mit Erfolg die bilateralen Verträge mit der EU unter Dach gebracht. Offiziell wurde der Vorstoss Richtung USA damit begründet, dass die Schweiz insgesamt – die Landwirtschaft allerdings ausgeschlossen – ihre Aussenwirtschaft mit Freihandelsabkommen weiter befördern müsse. Die USA waren, nach Deutschland, der wichtigste schweizerische Exportmarkt. Zudem waren die gegenseitigen Direktinvestitionen besonders hoch.

Freihandelsabkommen als trojanisches Pferd der USA?

Hinter der rein ökonomischen Begründung zugunsten eines Freihandelsvertrages finden sich jedoch noch andere Momente, die für eine solche Verbindung Schweiz-USA sprachen. Dies wird im Titel eines Artikels der welschen Zeitung «Le Temps» (21. Juni 2005) angedeutet: Ein Freihandelsvertrag mit der Schweiz gäbe den USA die Möglichkeit, einen Brückenkopf in Europa zu errichten. Bundesrat Hans-Rudolf Merz versuchte, solchen Anspielungen mit der Behauptung zu begegnen, ein Freihandelsvertrag mit den USA würde keinesfalls die Beziehungen der Schweiz zur EU belasten. Doch das ist eine einseitige Schutzbehauptung. Man kann in einem solchen Freihandelsabkommen durchaus ein amerikanisches trojanisches Pferd sehen, dem die Schweiz in ihrem Stall mitten in Europa einen privilegierten Platz zur Verfügung zu stellen gedachte.

Allenfalls erwähnenswert wäre auch die Erklärung, dass die Schweiz, nachdem die Anbindung an die EU mittels der bilateralen Verträge gelungen war, nun doch noch nach einer handfesten Rückendeckung Ausschau hielt. Wie dem auch sei, das Werben um einen Vertrag war vergebliche Liebesmüh. Schon allein die Tatsache, dass die Schweiz den Agrarbereich aus einem eventuellen Freihandelsabkommen heraushalten musste, machte den schweizerischen Vorstoss obsolet. Gerhard Schwarz, der damalige Leiter des Wirtschaftsteils der NZZ und Verteidiger eines kompromisslosen Liberalismus, sah gerade in diesem Problem eine Chance. Unter dem rätselhaften Titel «Kerzenmacher, Bauern und Freihändler» (NZZ 26./27.11.2005) plädierte er für das Freihandelsabkommen, da dieses den unumgänglichen Strukturwandel der Schweizer Landwirtschaft beschleunigen würde. Strukturwandel heisst hier Aufgabe der traditionellen Schweizer Landwirtschaft und eine radikale Liquidierung der kleinen Betriebe.

Der Traum von Schwesterrepubliken

Bei diesen Debatten kamen am Rande verschiedene politische und weltanschauliche Argumente zur Sprache. Im schon erwähnten Artikel der Zeitung «Le Temps» wird hervorgehoben, dass uns auch der Kampf gegen den Terrorismus und die Verteidigung der Menschenrechte den USA näher brächten. Die Schweiz und die USA seien, meint der Autor, «républiques soeurs». Auch Gerhard Schwarz versteigt sich in solch höheren Spären. «Ein Freihandelsabkommen», meint er im schon erwähnten Artikel, «böte Gelegenheit zu permanentem Meinungsaustausch und vielleicht zur (Wieder)Entdeckung der gemeinsamen Werte der beiden ‚Schwesterrepubliken‘.»

Auch Bundesrat Pascal Couchepin erklärte im Juli 2006 anlässlich seiner Reise zur Ausstellung des Bundesbriefes in Philadelphia, Amerika sei «nicht nur unsere Schwesterrepublik», es sei «auch die Republik unserer Söhne und Töchter». Gegenseitige Wertschätzung bestimme die Beziehungen beider Staaten, und die wirtschaftliche Entwicklung beider Länder werde von Wissenschaft, Forschung und Technologie angetrieben.

Die überschwengliche Anrufung der «Schwesterrepublik» bringt uns zurück zu Vorstellungen, die im 19. Jahrhundert wie eine Verheissung die schweizerischen Öffentlichkeit beschäftigten. Am 15. Juni 1850, anlässlich der Übergabe seines Beglaubigungsschreibens, sprach der US-Sondergesandte Dudley Mann von den «Kindern von Wilhelm Tell und Washington» und meinte wenig später in einem Bericht, die USA könnten stolz sein auf ihre «Schwester», das einzige Land in Europa, das dem «demokratischen System höchste Beachtung» schenke. Damit lieferte Mann eine Formel, die in der Folge regelmässig von Diplomaten und Journalisten aufgenommen wurde.

Tatsächlich gab es eine Gemeinsamkeit der Kinder von Tell und Washington: Das 1848 eingeführte Zweikammersystem. Das US-Modell stand in der Schweiz schon seit Jahren zur Diskussion. So schrieb 1799 Johann Georg Müller – der Bruder des berühmten Historikers Johannes von Müller –, dass «die amerikanische Verfassung noch am besten für uns taugen würde. Das ist Einheit und doch behält jeder Kanton seine Individualität.» Dass dieses Prinzip von der Verfassungskommission 1848 aufgenommen wurde, ist in erster Linie den Schriften des Mediziners und Philosophen Ignaz Paul Vital Troxler (1780-1866) zu verdanken. Einer seiner Schüler, der Schwyzer Melchior Diethelm, plädierte in der Verfassungskommission, Troxlers Buch in der Hand, mit Erfolg für das Zweikammersystem.

Bruchlandungen in der Realpolitik

Die schwesterliche Harmonie kam jedoch in der Realpolitik rasch unter die Räder. Schon bei dem von Dudley Mann ausgehandelten Freundschafts-, Niederlassungs- und Handelsvertrag kam es von Seiten der USA zu erheblichen Verstimmungen. Grund war die Diskriminierung der Schweizer Juden, die gemäss Bundesverfassung nicht vollumfänglich über die nur den Christen zugestandenen politischen Rechte verfügten. Die Forderung der Schweiz, dass nur den US-Bürgern christlicher Religion die Niederlassung gewährt würde, war für die USA nicht annehmbar. Die Amerikaner strichen diesen Passus aus dem Vertrag. Bern sah stillschweigend darüber hinweg.

Die handfesten Probleme begannen, als die amerikanische Wirtschaft sich zum ernsthaften Konkurrenten der Schweiz aufschwang. Ein erster wirtschaftlicher Schock erfolgte 1876, anlässlich der zum hundertjährigen Jubiläum der USA in Philadelphia organisierten Ausstellung. Die Schweizer entdeckten dort eine rationell organisierte Uhrenproduktion, die die Schweizer Uhr in den Schatten stellte. Die USA hatten bald auch in andern Industriebereichen genügend Kapazitäten, um in den europäischen Markt eindringen zu können. Zudem stützten sie ihre Handelspolitik mit Schutzzöllen. In diesem Konkurrenzkampf wurde auf die «Sister Republic» keine Rücksicht genommen. Die amerikanische Konkurrenz wurde in der Schweiz hinwiederum in erster Linie als Gefahr, und weniger als Inspiration für die Modernisierung ihrer Wirtschaft betrachtet.

Angesichts dieser Gefahren kamen um 1900 seltsame Ideen auf. So berichtete beispielsweise Carl Hilty in seinem viel beachteten Politischen Jahrbuch (Jg.XIV) über die Gefahr, dass kleine Staaten von den Grossmächten zunehmend dominiert würden. «Von diesem Gefühle ausgehend», meinte Hilty weiter, sei in der Schweiz «die Idee eines Anschlusses der Eidgenossenschaft an den amerikanischen Freistaat erörtert» worden. Die grosse Schwester jenseits des Atlantik sollte also den Schutz der kleinen Schweiz gegenüber den europäischen Grossmächten übernehmen. Auf heute übertragen würde dies heissen, dass die USA der Schweiz in der Auseinandersetzung mit der Europäischen Union aktiv Schützenhilfe leisten würde.

Schweizer Aussenpolitik gegen US-Interessen

Die Entwicklung im 20. Jahrhundert ging jedoch in eine gänzlich andere Richtung. Vor dem Ersten Weltkrieg begab sich die Schweiz weitgehend ins Schlepptau des Deutschen Reiches. Und während des Krieges lancierte Bundesrat Arthur Hoffmann in aller Stille diplomatische Manöver, mit denen er Friedensverhandlungen anstossen wollte, die jedoch insofern äusserst bedenklich waren, als sie in erster Linie das Deutsche Reich begünstigt hätten. In diesem Sinne unternahm der deutschfreundliche Schweizer Gesandte in Washington, Paul Ritter, Vorstösse, die von den Amerikanern nicht nur als neutralitätswidrig, sondern als unannehmbare Einmischung aufgenommen wurden. Um die Lage zu beruhigen, sandte der Bundesrat eine kleine Delegation nach Übersee. Ein Mitglied dieser Delegation, Professor Rappard aus Genf, hatte schon in verschiedenen Artikeln die Ideale der «République soeur» hervorgehoben. Er sollte nun für eine der Schweiz freundliche Stimmung in den USA sorgen.

Im 20. Jahrhundert sind die Friktionen in den Beziehungen so zahlreich, dass hier nur stichwortartig darauf verwiesen werden kann. Im Zweiten Weltkrieg galt die Schweiz bekanntlich in Washington als Satellit der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, wobei insbesondere der Handel der Schweizerischen Nationalbank mit Raubgold die US-Administration empörte. 1946 kam es dann zu Verhandlungen in Washington. Gewissermassen als Strafe musste die Schweiz 250 Millionen Franken, getarnt als Wiederaufbauhilfe für Europa, bezahlen. Ernüchtert stellte Bundesrat Petitpierre am 20. Juni 1946 vor einer nationalrätlichen Kommission fest, man habe heute mit einem amerikanischen Imperialismus zu tun, dem nicht nur die Schweiz zum Opfer falle.

Der Kalte Krieg, den die Schweiz trotz der getrübten Beziehungen nun als gelehrige Schülerin der USA mit einem besonders virulenten Antikommunismus bekräftigte, lockerte in Washington ein wenig die negative Stimmung gegenüber der Eidgenossenschaft. Die Schweiz musste sich allerdings 1951 im sogenannten Hotz-Linder-Abkommen faktisch dem von den USA diktierten Embargo gegen die Oststaaten anschliessen – ein Schritt, der einmal mehr der Glaubwürdigkeit der Neutralität schadete. Dieses Einlenken auf das Diktat der USA hinderte diese aber nicht, 1954 einen massiven Zollkrieg gegen die Schweizer Uhrenindustrie vom Zaune zu brechen. In einem Rückblick stellt die NZZ 2014 fest, dass der Uhrenkrieg kein Einzelfall darstelle. «Generell» seien «die Beziehungen zwischen der Eidgenossenschaft und den USA zur Jahrhundertmitte erstaunlich trüb, wenn man bedenkt, dass die Schweiz im Zeitalter des Totalitarismus immer fest der Demokratie und der Marktwirtschaft verschrieben geblieben ist.» (NZZ 28.07.2014).

In den 1990er Jahren, mit den Auseinandersetzungen über die nachrichtenlosen Vermögen – den von Schweizer Banken zurückbehaltenen Guthaben von Juden, Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsaktionen – war man am Tiefpunkt der Beziehungen mit den USA angelangt. Es ging dabei um mehr als die Rückerstattung von jüdischen Vermögen. Es ging um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und um die Glaubwürdigkeit der eidgenössischen Politik insgesamt.

Helvetische Desorientierung – amerikanische Verheissung?

Es ist Zeit, auf die zentrale Perspektive unserer Betrachtung, die Sister Republic und das Freihandelsabkommen, zurückzukommen. Betrachtet man diese Geschichte insgesamt, entsteht der Eindruck, die Schweizer Aussenpolitik greife immer dann zur amerikanischen Verheissung, wenn sich ihre eigenen Konzepte, falls solche überhaupt existierten, im Nebel verflüchtigten. Die Hinwendung zur Sister Republic soll gewissermassen Defizite und Orientierungslosigkeit der eidgenössischen Politik überdecken. Dies trifft auch im Fall des aktuellen Schweizer Aussenministers Cassis zu. Dass er dabei Schützenhilfe von Magdalena Martullo-Blocher bekommt, macht die Sache nicht besser – im Gegenteil. Und ob ein «Deal» mit Präsident Trump dem internationalen Ansehen der Schweiz wirklich dienlich wäre, ist ebenfalls fraglich. Hingegen freuen sich jene Kreise, deren Leitspruch sich in einem einzigen Wort äussert: Business…

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Literaturhinweise:
MEIER Heinz K., Friendship under Stress. U.S.-Swiss Relations 1900-1950, Bern 1970. HUTSON James H., The Sister Republics. Switzerland and the United States from 1776 to the Present, Washington 1991.


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Konzerne_Weltkugel

Pro und Contra Freihandelsabkommen

Die grossen Konzerne gewinnen. Die Risiken gehen oft zulasten der Staaten und ihrer Bürgerinnen und Bürger.

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Eine Meinung zu

  • am 15.02.2019 um 17:28 Uhr
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    Die unter einer dünnen Schicht von glänzendem Blattgold dem Schweizer Publikum verborgene tatsächlich Geschichte und das Leben der kleinen und grossen Schweizer.
    Die tun was, nicht DIE Schweiz.
    Geschichtsschreibung ist gewöhnlich die der Sieger und der Grossen; neuerdings und selten, auch die der kleinen Leute.
    Ein solcher Wissenschaftler, aus Liebe zur Wahrheit, der die Reputation DER Schweiz als sicheren Hafen (heaven) für fragwürdige Gelder und steuerfreie Kapitalein-kommen beschädigt, würde heute nicht mehr Professor an einer Schweizer Universität werden, weil der kaum Drittmittel von privaten Stiftungen bekommen wird und sich auch nicht dafür prostituieren wird.
    Viele führende Nazis haben nun mal Gold, $, £, Aktien aus West-Allierten-Ländern und Franken aus umgetauschten RM bei Schweizer Bankhäusern deponiert und haben es nach dem verlorenen Krieg dank des Schweizer Bankgeheimnisse behalten können.
    Hermann Josef Abs und andere Reichsbank-Angestellte lassen grüssen.
    Wenn das der Führer gewusst hätte und da suchen Deutsche immer noch nach Reichsbank-Gold, das nicht für die Schweizer Waffenproduduktion verwendet wurde.

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