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Im Aufwind: der Weissstorch © Marcel Ruppen, birdfoto.ch

Warum der Weissstorch aufsteigt und der Ortolan abstürzt

Beatrix Mühlethaler /  Wie gut leben Vögel in der Schweiz? Der neue Brutvogelatlas liefert Antworten. Der Öko-Wandel gebiert Sieger und Verlierer.

Red. Im Landwirtschafts-Gebiet hat der Vogelbestand massiv abgenommen. Über die Resultate dieser jährlichen Zählungen (Swiss Bird Index) informierten neben Infosperber auch andere Medien. Ein umfassenderes und differenzierteres Bild liefert der neue 650 seitige Schweizer Brutvogelatlas, der alle Lebensräume erfasst, und den die Vogelwarte Sempach kürzlich veröffentlichte. In einer dreiteiligen Serie pickt Infosperber einige Kerne aus dem reichen Fundus heraus. Die erste Folge widmet sich den Gewinnern.

Ein erstaunliches Comeback feiert ein allseits bekannter Sympathieträger: der Weissstorch. 1949 brütete ausserhalb von Volieren hierzulande das letzte Paar. Heute, siebzig Jahre später, sind es wieder über 400 Paare. Wäre es bei den anfänglichen Fördermassnahmen mit Volierenhaltung und Fütterung geblieben, ergäbe das keine Erfolgsmeldung. Doch inzwischen beziehen auch wilde Störche wieder die angebotenen Brutplattformen und suchen sich selbst Futter im Kulturland und in Feuchtgebieten.

Ein Grund für diese Entwicklung könnte das Futterangebot in Spanien darstellen: Auf ihrem Weg ins afrikanische Winterquartier bedienen sich die Störche dort an ungedeckten Mülldeponien und laben sich am invasiven roten Sumpfkrebs, der sich in den Reisfeldern ausbreitet. Immer mehr Störche bleiben gleich dort und vermeiden damit den risikoreichen Flug nach Afrika.

Einen rasanten Absturz erleidet demgegenüber ein kleiner, wenig bekannter Zugvogel: der Ortolan. Als Liebhaber mediterraner Lebensräume brütete er vor allem im Wallis. Trotz Fördermassnahmen sank sein Bestand seit den sechziger Jahren unaufhaltsam. Ihm kamen Lebensräume und Körnernahrung abhanden, weil im Alpenraum kaum noch Getreide angebaut wird, und weil gleichzeitig offene, nicht mehr bewirtschaftete Gebiete in Wald übergehen. Dazu kommt: In seinen südlichen Winterquartieren ist der Ortolan immer noch der Vogeljagd ausgesetzt.


Der Ortolan geht der Schweiz als Brutvogel verloren, weil ihm Lebensräume und Futter mangeln. © M.Ruppen

Verlust im Kulturland, Gewinn in andern Lebensräumen

Welche anderen Arten gedeihen wie der Weissstorch, serbeln wie der Ortolan oder können ihren Bestand etwa halten? Das lässt sich im 650 Seiten starken Brutvogelatlas 2013-2016 nachschlagen. Das Monumentalwerk der Vogelwarte Sempach, das sie dank der Hilfe zahlreicher ehrenamtlicher Ornithologinnen und Ornithologen erstellen konnte, ist eine Fundgrube aus statistischen Daten, informativen Grafiken und erhellenden Texten. Die Lektüre zeigt, wie Klima, Nahrungsangebot, Bewirtschaftungsweisen usw. die Vögel beeinflussen, sodass sie sich in einem Gebiet neu ansiedeln, ihren Brutort geografisch verschieben oder aber verschwinden. Da Vögel wichtige Zeiger dafür sind, wie es um die Qualität der Landschaft steht, sind die vorliegenden Daten ein allgemein interessierender Hinweis zum Zustand der Natur.

Im Kulturland machte die intensive Landwirtschaft in den letzten zwanzig Jahren vielen Vogelarten den Garaus. Darüber berichtete Infosperber unter dem Titel «Bauern vertreiben die Vögel aus dem Kulturland» Die Bestände der Zielarten, denen die Landwirtschaft einen guten Lebensraum bieten sollte, gingen innerhalb von zwanzig Jahren auf weniger als die Hälfte zurück. Die Wälder hingegen haben sich vogelfreundlicher entwickelt, und auch die Seen bieten gute Lebensräume.

So ergibt sich – unerwartet in Zeiten abnehmender Biodiversität – das statistische Fazit: Bei zwei Dritteln der Arten sind die Bestände gegenüber der letzten Erhebung vor zwanzig Jahren gewachsen! Die Vogeldichte insgesamt ist ebenfalls leicht gestiegen.

Positives Fazit, aber es gilt zu differenzieren

Dieser Befund wirkt beruhigend. Er ist allerdings zu relativieren. Denn auch vor zwanzig Jahren – als der frühere Brutvogelatlas eine Bestandesaufnahme bot – stand es nicht prächtig um unsere Vögel. Gleich jenseits der Grenze, in Deutschland und Frankreich, gefiel es den Gefiederten schon damals besser. Auch bei der aktuellen Erhebung ist die Dichte an Vogelrevieren auf dem angrenzenden deutschen und französischen Boden höher. Der Grund ist für jeden Menschen, der die Grenze überquert, augenfällig: Kaum verlässt man die Schweiz, wird die Landschaft vielfältiger.

Andererseits stimmen auch die Katastrophenmeldungen nicht, die dieses Jahr wegen der aussergewöhnlichen Trockenzeit kursierten: «Das grosse Vogelsterben» fand nicht statt, stellt die Vogelwarte Sempach klar. Zwar waren beispielsweise Regenwürmer für Amseln schwieriger zu picken, Obst aber gab es im Überfluss. Zutreffend ist allerdings, dass es ein Amsel- und Drosselsterben aus anderen Gründen gab, insbesondere in Norddeutschland. Schuld ist ein Virus aus Südafrika. Der Usutu-Virus, der durch Stechmücken auf Vögel übertragen wird, trat in Europa erstmals 2011 auf. Vor allem Amseln fallen ihm zum Opfer, insbesondere wenn der Virus neu auftritt, und die Vögel dagegen noch keine Immunabwehr aufgebaut haben.

Milde Winter fördern Vogelpopulation

Was Vögeln trotz schwierigem Umfeld Auftrieb verleiht, ist nicht in jedem Fall klar. Doch einige Einflüsse – globale und regionale – sind nachvollziehbar. Nehmen wir den Klimawandel. Bei vielen Arten kann er sich zwar langfristig negativ auswirken. Doch die allgemeine Erwärmung fördert zurzeit die Vogelpopulation. So dehnen einige Arten ihre Brutgebiete vom Süden in unser Land aus. Die Mittelmeermöwe beispielsweise vermehrt sich seit der letzten Atlaserhebung rasant. Und der Bienenfresser sucht öfter nach geeigneten Brutwänden auf der Alpennordseite. Zusätzlich profitieren zahlreiche Vogelarten, die in harten Wintern einen grossen Aderlass erleiden wie beispielsweise der Eisvogel, von den vielen wärmeren Wintern.

Der exotisch aussehende Bienenfresser ist in der Schweiz häufiger anzutreffen als vor zwanzig Jahren. © M.Ruppen

Anpasser haben es leichter

Wachstum verzeichnen generell jene Arten, die keine spezifischen Ansprüche an ihre Umgebung stellen und sich veränderten Verhältnissen anpassen können. Böse Zungen bezeichnen sie als banale Arten. Die Elster beispielsweise hat sich vom wenig reichhaltigen Kulturland in Richtung Agglomeration verlagert. Dort wird der Vogel nicht gejagt und kann sich als Allesfresser bestens ernähren. Ähnliches gilt für die Raben- und die Saatkrähe. Ihre starke Zunahme zeigt nichts Gutes an, denn sie kommen besser als andere mit Monokulturen zurecht. Auch die Amsel, die sich vom Wald in die Siedlungen vorgewagt hat, verzeichnete im Beobachtungszeitraum wachsende Zahlen. «Möglicherweise wirken sich der frühere Brutbeginn und die geringere Zugaktivität städtischer Vögel sowie die infolge der Klimaerwärmung in allen Habitaten verlängerte Brutperiode positiv auf die Bestandsentwicklung aus», heisst es dazu im Brutvogelatlas.

Weniger Risiken, mehr Futter

Von den gleichen Vorteilen sowie von einer guten Futterbasis im Ackerland profitiert die Ringeltaube, die neuerdings gerne in Parks im Siedlungsraum lebt und im Winter nicht mehr durchwegs wegzieht. Mildere Winter und eine gute Futterbasis in sauberen Seen fördern auch etliche Entenarten und andere Wasservögel. Die Kolbenente zum Beispiel reagierte auf die erstarkten Bestände der Armleuchteralge: Die prächtige Ente erschien zuerst im Winter in grosser Zahl und brütet seither zunehmend in unserem Land. Teils dehnen Wasservögel ihren Radius auch in höher gelegene Gebiete aus, wo Gewässer länger eisfrei sind. Diverse weitere Arten verbreiteten sich ebenfalls nach oben.


Die Kolbenente kam als Wintergast auf unsere Seen und brütet jetzt in zunehmender Zahl. © M.Ruppen

Ebenfalls Auftrieb haben die meisten Greifvögel, nachdem einige Gefahren wie etwa die Jagd in Nachbarländern, der Einsatz von DDT sowie ein Mäusegift, das zuvor viele Mausjäger mitvergiftete, eliminiert wurden. Auffällig ist insbesondere die Ausbreitung des Rotmilans, der nur gerade in der Schweiz zulegt – eventuell weil er gefüttert wird, wenn er um die Häuser streicht. Auch Graureiher und Kolkrabe wurden wieder häufiger, nachdem sie dank einem Jagdverbot (in der Regel) nicht mehr dezimiert werden dürfen.

Der Wald ist wohnlicher geworden

In abgelegenen, ungenutzten Wäldern gibt es heute mehr alte Bäume, abgestorbene Stämme und liegendes Totholz. Die Stürme Lothar und Vivian sorgten gebietsweise für mehr Strukturvielfalt. Auch die Waldbewirtschafter orientieren sich heute an natürlicheren Waldgesellschaften als vor der Jahrtausendwende. Das Potenzial für bessere Lebensverhältnisse im Wald ist zwar noch längst nicht ausgeschöpft. Aber viele typische Vögel des Waldes haben von der stärkeren Orientierung an der Natur profitiert. So nahmen Bestände von Arten deutlich zu, für die Totholz eine grosse Bedeutung hat, darunter diverse Spechte. Waldvögel in höheren Lagen wie die Alpenmeise dürften von der Ausdehnung des Waldes im Berggebiet profitieren. Zusätzlich sind die wärmeren Winter auch für viele Waldarten von Vorteil. Insgesamt hat die Vogelpopulation dieses Lebensraums um 20 Prozent zugelegt.


Der Schwarzspecht braucht alte Bäume für Futtersuche und Höhlenbau. © M.Ruppen

Gezielter Schutz wirkt

Unter den seltenen und gefährdeten Vogelarten geniessen einige Arten hierzulande ebenfalls Aufwind. Von allein hätten sie es in den oft unwirtlichen Lebensräumen von heute allerdings nicht geschafft. Vielmehr halfen – wie beim Weissstorch – gezielte Fördermassnahmen, gefährdete Vögel in unserem Land zu halten oder sogar wieder einzubürgern. So ist der Bartgeier dank Aussetzungen in den Alpenraum zurückgekehrt. Steinkauz und Wiedehopf konnten in Regionen zulegen, wo eine naturnahe Landschaft und Bewirtschaftungsweise gefördert und als Ersatz für fehlende Höhlen Nisthilfen installiert wurden. Und die Flussseeschwalbe erholte sich dank Plattformen oder Aufschüttungen in Gewässern von ihrem Tief; zuvor hatte sie durch die Verbauung von Flüssen ihre natürlichen Brutorte auf Kiesbänken verloren.


Die Flussseeschwalbe kann in der Schweiz nur noch dank künstlicher Flosse brüten © M.Ruppen.

Seltene Vögel brauchen Förderung

Der Brutvogelatlas hält denn auch fest: In Zukunft brauchen zahlreiche gefährdete Arten besondere Schutzmassnahmen, um sie in unserem Land zu halten. Und dies zusätzlich zum Bemühen, die Lebensräume generell wieder lebenswerter zu gestalten. Denn viele Arte zeigen einen derartigen Aderlass, dass sie ohne Gegenmassnahmen aus der Schweiz verschwinden. Über diese Verlierer, die es neben dem Kulturland auch im Wald, in den Siedlungen und in den Alpen gibt, berichtet Infosperber in einigen Tagen.
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Quelle: Knaus Peter et al., Schweizer Brutvogelatlas 2013-2016, Schweizerische Vogelwarte Sempach

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Nächste Folge: Die Verlierer unter den Vögeln und was dahinter steckt.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

Wald

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