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Viktor Orbans Regierung: «Graduelle Autokratisierung mit einer juristischen Fassade» © EU 2015 - European Parliament/cc

«Autokratisierung bringt die Demokratien in Gefahr»

Renat Kuenzi /  Die Welt erlebt aktuell eine Welle der Autokratisierung auf Kosten der Demokratien. Dies folgt aus einer Langzeitstudie seit 1900.

Drei Wellen von Demokratisierung, jeweils gefolgt von einer Welle der Autokratisierung: Dies ist die globale politische Entwicklung von 1900 bis 2017, welche die Politikwissenschaftler Anna Lührmann und Staffan Lindberg erstmals in dieser Form aufzeigen.

Lindberg ist Direktor des «V-Dem Institutes» an der schwedischen Universität Göteborg, Lührmann Vizedirektorin. V-Dem steht für «Varieties of Democracy», dem grössten internationalen Forschungsprogramm zur Messbarkeit von Demokratie-Qualität. Ihm sind rund um den Globus 3000 Forschende angeschlossen.

Die Forschenden des «V-Dem Institutes» untersuchten 182 Länder, dies über den Zeitraum von 1900 bis 2017. In diesen 117 Jahren registrierten sie total 217 Autokratisierungen, die 109 Länder betrafen. Zwei Drittel der Fälle fanden in Ländern statt, die bereits autokratisch regiert wurden. Ein Drittel entfällt auf Demokratien. In der aktuellen, dritten Welle sind 47 Länder von Autokratisierung betroffen.

Lindberg und Lührmann bringen ihre Ergebnisse in der unten stehenden Grafik zum Ausdruck. Die unterbrochene, graue Linie zeigt die Demokratisierung, die dicke, schwarze Linie die Autokratisierung und die dünne, schwarze Linie die Autokratisierung in Demokratien in den letzten 117 Jahren.

Demokratien angefressen

Die aktuelle, dritte Welle der Autokratisierung bringt laut Lindberg und Lührmann eine Neuerung mit sich, die es in sich hat: Während früher Autokratisierung meist in Ländern stattfand, die sowieso schon autokratische Züge aufwiesen, geschehe dies heute meist in Demokratien.

Anders gesagt: autokratische Regimes kamen einst meist durch eine Invasion fremder Truppen oder einen Militärputsch an die Macht. Heute geschieht der Abschied von der Demokratie schleichend und unter einem legalen Deckmantel.

Was ist Autokratisierung?

Lindberg und Lührmann bezeichnen Autokratisierung als gegenläufige Entwicklung von Demokratisierung. Autokratisierung verläuft graduell sowohl in Demokratien als auch in Autokratien. Autokratisierung bezeichnet eine Konzentration von Macht in den Händen eines starken Führers. Dieser nimmt für sich in Anspruch, den «Willen des Volkes» zu kennen und in seinem Namen zu regieren. Gerne werden garantierte Grundrechte wie die Medienfreiheit und demokratische Grundprinzipien wie die Gewaltentrennung ausser Kraft gesetzt. Autokratische Führer sind oft auch bestrebt, ihre Amtszeit über eine allfällige Beschränkung hinaus zu führen. Einige beanspruchen ihre Führerschaft auf Lebenszeit.

Die Personifizierung des Autokraten aktueller Prägung ist Ungarns starker Mann, Ministerpräsident Viktor Orban: in demokratischer Wahl an die Spitze des Staates gelangt, setzt er liberale Freiheiten ausser Kraft und nimmt die politische Opposition, die Medien sowie die Zivilgesellschaft hart an die Kandare.

Dennoch: Orban muss sich aber nach wie vor der Wiederwahl stellen, und im ungarischen Parlament sind mehrere Parteien vertreten. Die Autoren sprechen deshalb von «gradueller Autokratisierung mit einer juristischen Fassade».

Internationale Sanktionen, wie sie sich im Falle einer militärischen Invasion oder eines Putsches als sehr wirksam zeigten, sind aufgrund dieses legalen Deckmäntelchens sehr viel schwieriger durchzusetzen. Dies bringt die bisher herrschende Ratlosigkeit der EU dem zunehmend antidemokratischen Mitgliedsland gut zum Ausdruck.

Nicht mehr zu stoppen

«Die dritte Welle der Autokratisierung ist real und bedeutet für die Demokratien eine Gefahr», kommen Lührmann und Lindberg in ihrer Studie zum Schluss. Der Grund dafür: Praktisch alle Fälle von Autokratisierung einer Demokratie hätten am Ende zum Kippen des Landes geführt, schreiben sie. «Nur ganz selten konnte eine solche Entwicklung gestoppt werden, bevor die Länder zu Autokratien wurden.»

Dennoch wäre es laut Lindberg und Lührmann falsch, in Alarmismus zu verfallen oder gar auf Panik zu machen. Denn trotz breiterer und gradueller Autokratisierung ist die Lage der Demokratien insgesamt immer noch sehr robust.

Auch dies belegen die Forschenden mit Zahlen aus ihrem reichen Datenfundus: 2017 führte V-Dem noch 33 «geschlossene» Autokratien, darunter Nordkorea und Angola. 1980, vor dem Fall der kommunistischen Staaten und dem Eisernen Vorhang, waren noch rund die Hälfte aller Länder der Welt waschechte Autokratien gewesen.

Nagelprobe EU-Wahlen

«Die globale Zunahme von Demokratisierung sollte einen hemmenden Effekt auf die Rate von Autokratisierung haben», schreiben Lührmann und Lindberg.

Derweil steht eine grosse Nagelprobe für die Demokratien vor der Tür: Am 26. Mai wählen die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union das neue EU-Parlament.

Die nationalistischen und populistischen Parteien haben einen Grossangriff auf die bisherigen Systemparteien von Mitte/Links angekündigt. Erklärtes Ziel: Diese entscheidend zu schwächen.
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Dieser Beitrag ist am 5. März 2019 auf der Internetseite von Swissinfo erschienen.


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3 Meinungen

  • am 7.03.2019 um 15:47 Uhr
    Permalink

    Aber ja
    Der demokratische und liberale (nicht der libertäre) Geist wurde im Schonwaschgang des Konsumismus schön langsam ais den Hirnen des gemeinen Volkes der Kapitalschwachen gespült, von hochprofessionellen Influencern aus den Portokassen der Kapitalgewaltigen, mit deep learning, Sprachanalyse, Bots usw.

    Letzendlich ist die Herrschaftsform egal, entscheidend ist die Art und Weise der Handlungen aller, dass möglichst viele Menschen zuerst vor konkreten Schäden und konkret üblen Lebensumständen bewahrt werden und erst dann für die individuell verschiedenen Vorstellungen des guten Lebens gesorgt wird, der Menschen untereinander.

  • am 7.03.2019 um 16:15 Uhr
    Permalink

    "Autokratisierung» hat nur mit Machtausübung zu tun.

    Es gibt zwei Prinzipien des Staatsaufbaus – das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip. Es ist nicht möglich gleichzeitig beides zu sein, auch wenn es tausendfach täglich falsch verwendet wird – auch in Schweizer Medien.

    Bei einem Rechtsstaat, der eigentlich Richterstaat oder Juristokratie genannt werden müsste, ist die höchste Macht des Staates ein Verfassungsgericht. Alles was der Gesetzgeber verabschiedet steht unter Vorbehalt dieses Gerichtes. Es kontrolliert die Politik.

    Bei einer Demokratie hingegen ist die höchste Macht des Staates der Gesetzgeber. Der Vorbehalt liegt beim Volk. Der Gesetzgeber kontrolliert die Justiz, oder vielmehr sollte es, und nicht umgekehrt.
    Die Schweiz ist der einzige Staat des Kontinents, der das Demokratieprinzip kennt. Daraus geht die Parlamentssouveränität hervor – im Gegensatz zu Richterrecht in einem Rechtsstaat.
    Das Recht hat der Politik zu folgen und nicht die Politik dem Recht.

    Es erklärt sich selbst, dass in einer Juristokratie keine Gewaltentrennung möglich ist, weil mit jedem Urteil die Justiz direkt in die andere Gewalt eingreift.
    Liebe Wissenschaftler, erklären Sie, warum man Gesetzgeber wählen soll, wenn ein Gericht das letzte Wort hat. Man müsste Richter wählen.

    In DE ist die Gefahr nicht anders als vor dem WWII. Nicht wegen gewählter Politiker, sondern wegen eingesetzten Richtern und fehlender Gewaltenteilung. Es waren Richter, die Autokraten zur Macht verhalfen.

  • am 8.03.2019 um 14:06 Uhr
    Permalink

    An Beat Leutwyler und sein persönliches Demokratievertändnis. Es entspricht aber einer Diktatur durch die Mehrheit Wähler . In der demokratischen Gesellschaft/Genossenschaft, durch dem Gesellschaftsvertrag verfasst, gibt es aber noch mehr Institutionen Mächte als die Parlamentarier.
    Aber Verträge nicht einhalten wollen und willkürlich mit heimtückisch gelenkten Demokraten abändern, gehört zum libertären Geist der Hig-Society und nicht zum gesamtgesellschaftlichen demokratischen Geist.
    Das Volk wählt die Volksvertreter in die Legislative. Wenn diese

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