Kommentar

Die Kurden stehen vor einem traurigen Déjà-vu

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Amalia van Gent /  Die USA räumen das Feld für eine türkische Offensive in Nordsyrien. Ihre ehemaligen Verbündeten überlassen sie dem Schicksal.

Die Erklärung Washingtons vom späten Sonntagabend kam nicht ganz unerwartet und hat die syrischen Kurden dennoch hart getroffen: Der Einmarsch der türkischen Armee in den Norden Syriens stehe unmittelbar bevor, hiess es. Die US-Armee vor Ort werde die türkische Offensive «weder unterstützen noch darin involviert» sein. Mit diesen Worten gab die US-Regierung faktisch grünes Licht für die dritte türkische Invasion in Syrien und verkündete zugleich das Ende ihrer Allianz mit den syrischen Kurden.
Im Kampf gegen die Terrormiliz des «Islamischen Staats» (IS) waren die Kurden nach 2015 die wichtigsten Verbündeten der USA und der europäischen Anti-IS-Allianz. Vor allem dank dem Einsatz der Kurden war ein Sieg über die Dschihadisten in Irak und in Syrien überhaupt möglich. Nun kündigte Washington an, die US-Armee ziehe sich nach dem Sieg über die Dschihadisten ganz aus der Region zurück. Das heisst aber auch: Der Luftraum über dem selbstverwalteten kurdischen Rojava wird für die türkische Luftwaffe freigegeben.
Es ist ein trauriges Déjà-vu für das kurdische Volk: Im Januar 2018 hatte Russland der türkischen Luftwaffe die Erlaubnis erteilt, den syrischen Luftraum für Angriffe auf die damals noch von Kurden verwaltete nordwestliche syrische Provinz Afrin zu benützen. 72 Flugzeuge bombardierten an einem einzigen Tag flächendeckend das Gebiet – es war der bislang grösste Einsatz der türkischen Luftwaffe ausserhalb der Türkei. Die türkische Führung nannte diese Militäroffensive «Operation Olivenzweig». Nach dem Einmarsch der türkischen Truppen und ihren syrischen islamistischen Alliierten in Afrin, wurde die einheimische kurdische Bevölkerung vertrieben. Menschenrechtsorganisationen melden seither, dass Entführungen, Folter und Raub in Afrin alltäglich seien.
Steht nun der Bevölkerung Rojavas ein ähnliches Schicksal bevor? Die Vereinten Nationen haben dazu aufgerufen, die Zivilbevölkerung zu schützen. «Wir hoffen das Beste, bereiten uns jedoch auf das Schlimmste vor», sagte Panos Moumtzis, der Leiter des UNO-Hilfseinsatzes in Syrien.
Mustafa Bali, ein führendes Mitglied des selbstverwalteten Rojava, konnte nach der Erklärung aus dem Weissen Haus seine Enttäuschung kaum in Worte fassen. Er warf der US-Regierung vor, mit ihrer Entscheidung die ganze Region in eine «Kriegszone» zu verwandeln. Die Kurden hätten keine andere Wahl, als ihre Heimat um jeden Preis zu verteidigen, sagte er. Die von den USA ausgebildete kurdische YPG-Miliz wird auf rund 40’000 Mann geschätzt. Der Krieg Erdogans könnte also zu einem langen, blutigen Alptraum werden.
Und was macht die EU? Wird sie die völkerrechtswidrige türkische Invasion in Nordsyrien ohne Wenn und Aber verurteilen? Oder werden auch die europäischen Politiker wegschauen, weil die Dschihadisten in Syrien nun besiegt sind und der türkische Präsident Erdogan ihnen verspricht, alle syrischen Flüchtlinge in Rojava unterzubringen und das Flüchtlingsproblem so für alle einvernehmlich zu lösen?


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5 Meinungen

  • am 8.10.2019 um 10:18 Uhr
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    Die USA begründen ja jede Intervention damit, dass sie die Unterdrückten gegen die Mächtigen beschützen wollen. Hier ist ganz offensichtlich das Gegenteil der Fall. Die Kurden werden bewusst den Invasoren überlassen. Ich weiss nicht, welches Kalkül dahinter steckt, auf jeden Fall ist es das erste Mal, dass die USA ziemlich offen dazu stehen, die Region destabilisieren (lassen) zu wollen.

  • am 8.10.2019 um 11:50 Uhr
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    Trau! Schau! Wem? Das ist nicht das erste Mal, dass die US-Amerikaner Verbündete im Stich lassen. Die Kurden hätten es wissen müssen. Es ist traurig, dass die Völkergemeinschaft dieses Volk im Stich lässt, während sie ein völkerrechtswidrig abgespaltenes Kosovo anerkennen. Von der Gründung eines israelischen Staates gar nicht zu reden.

  • am 8.10.2019 um 14:01 Uhr
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    «Und was macht die EU? Wird sie die völkerrechtswidrige türkische Invasion in Nordsyrien ohne Wenn und Aber verurteilen?»

    Mit der üblichen Doppelmoral also, stellt Frau van Gent sich das so vor? Und wer verurteilt derweil die völkerrechtswidrige Präsenz der EU-NATO-Staaten in Syrien?

  • am 8.10.2019 um 18:26 Uhr
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    Von doppeltem Standard würde ich bei diesem Artikel nicht unbedingt reden, aber vom kompletten Vergessen oder Ausblenden des Umstands, dass die Kurden nicht erst seit 2018 von allen verraten worden sind. Man denke doch bitte wenigstens an die Ende 80- u. 90-Jahre zurück, als die Türkei in ihrem jahrelangen schluss- endlich siegreichen Kampf gegen die aufständischen «Bergtürken» von den USA und Israel militärisch-logistisch (und vom Westen insgesamt politisch) unterstützt wurden. Dabei waren die Zahlen der damals getöteten, intern vertriebenen und massenhaft nach Europa ausgewanderten türk. Kurden bekanntlich um mehrere Zehnerpotenzen höher, als etwa die seit Erdogan durch die türkische Armee /Polizei bislang umgekommenen Kurden.
    (Die meist genannten Gesamtverlustzahlen waren : 40’000 Tote, mind. 400 dem Erdboden gleichgemachte kurdische Bergdörfer und Hunderttausende von Vertriebenen). Aber eben, wie man weiss, die grosse Geopolitik gehorcht/e auch nach dem Zerfall der Sowjetunion eigenen Kriterien und kaum vernünftigen oder gar ethischen Prinzipien.

  • am 10.10.2019 um 21:40 Uhr
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    Die türkische Armee führt in Nordsyrien Krieg. Die Türkei ist ein sehr guter Kunde der Schweizer Rüstungsindustrie. Nach der Türkei wurde von 2006 bis 2019 für 275 Millionen Kriegsmaterial und besondere militärische Güter ausgeführt. Ohne die Waffenlieferungen des Auslands, auch der Schweiz, könnte Erdogan heute kein Krieg in Syrien führen, so wenig Saudiarabien im Jemen Krieg führen könnte. Waffenexport auch nach der Türkei ist Beihilfe zum Mord! Kriege schaffen Millionen Flüchtlinge die wir dann nicht wollen, obwohl wir mit unseren Waffenexporte Kriege oft erst möglich machen.

    Die Kriegspolitik des türkischen Regime, die Menschenrechtsverletzungen, die Angriffe auf die Kurden im inneren des Landes, aber auch im Iran, sind seit langem, bekannt. Dennoch wurden in den letzten Jahren die Waffenexporte der Schweiz nach der Türkei fortgesetzt, mit dem Segen von Bern. An Staaten die Kriege führen, dürften jedoch nach dem Kriegsmaterialgesetz und der Kriegsmaterialverordnung keine Rüstungsgüter geliefert werden. (Auslandgeschäfte und Abschlüsse von Verträgen nach Artikel 20 des Kriegsmaterialgesetzes (also mit Kriegsmaterial) werden nicht bewilligt, wenn:
    «a) das Bestimmungsland in einen internen oder internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt ist.»

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