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Der russische Bär «annektiert» die Krim. Die dortige Bevölkerung wollte den Anschluss an Russland. © OperaMundi

Eine folgenschwere Frage zur Krim: War es eine Annexion?

Urs P. Gasche /  Ein aggressives Russland habe die Krim «annektiert» und einen Wirtschaftsboykott verdient. Infosperber analysiert, was Sache ist.

Als Reaktion auf die «illegale Annexion der Krim» hatten die USA und die EU ab 2014 gegen Russland einschneidende wirtschaftliche Sanktionen verhängt, die noch heute in Kraft sind. Westliche Medien, Fernseh- und Radiosender stellen die «Annexion der Krim» meistens als Tatsache dar. Völkerrechtliche Fragen werden kaum diskutiert und Vergleiche mit früheren Abspaltungen vermieden. Beispielsweise mit der Sezession des Kosovo von Serbien nur sechs Jahre früher.

Differenzierte Analyse jenseits des Schwarz-Weiss-Sehens

Völkerrechtlich ist nicht alles so klar, wie es meist dargestellt wird – ganz einseitig auch die Krim-Version auf Wikipedia. Die Abspaltung des Kosovo von Serbien verlief noch einiges ungeregelter als diejenige der Krim von der Ukraine. Als «doppelzüngig» bezeichnete Reinhard Merkel, emeritierter Professor für Rechtsphilosophie in Hamburg, die unterschiedliche Reaktion des Westens auf die beiden Abspaltungen. Die Sezession des Kosovo sei viel ungeordneter und ohne Volksabstimmung durchgesetzt worden. Nach der ebenfalls rechtswidrigen Sezession der Krim habe Russland das Aufnahmegesuch der Krim in die russische Föderation zwar überstürzt angenommen, aber eine «Annexion» sei es nicht gewesen. Infosperber hatte am 16. September über die Sicht Merkels berichtet (siehe «Russland hat die Krim nicht annektiert»). Reaktionen auf diesen Artikel waren zum Teil emotional heftig.
Im Folgenden geht Infosperber auf die Eigenheiten von Sezessionen und Annexionen vertieft ein. Wer sich ein Urteil bilden möchte, muss sich auf eindeutige und umstrittene Fakten einlassen und Argumente abwägen.

Annexionen sowie geordnete und ungeordnete Sezessionen

Die völkerrechtlichen Abgrenzungen sind nicht haarscharf, weshalb es zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen kann. Über folgende Abgrenzungen ist sich die Mehrheit der Völkerrechtler einig:

Annexion eines Landesteils
Sie setzt eine gewaltsame Aneignung eines Teils eines fremden Staates gegen dessen Willen voraus. In der Regel erfolgt eine Annexion auch gegen den Willen der betroffenen Bevölkerung. Als Paradebeispiel gilt die gewaltsame Besetzung und Annexion von Kuwait durch den Irak im Jahr 1990.
Gegenwärtig ist die Türkei daran, ein Gebiet von über 6500 Quadratkilometern im Norden Syriens gewaltsam und gegen den Willen der ansässigen Bevölkerung zu annektieren. Zuerst besetzte die Türkei das Gebiet illegal als «Pufferzone». Unterdessen wird das Gebiet von der Türkei verwaltet, offizielle Währung ist die türkische Lira, die Schulen müssen Schulbücher aus der Türkei benutzen (siehe «Eine kleine Türkei entsteht in Nordsyrien», NZZ vom 12. März 2019).

Solche Annexionen von fremden Gebieten wie Kuwait oder Nordsyrien sind völkerrechtlich ein Kriegsgrund und erlauben dem geschädigten Staat, sein Staatsgebiet aufgrund von Artikel 51 der UNO-Charta mit militärischen Mitteln zu verteidigen – dies auch ohne vorausgehenden Beschluss des UN-Sicherheitsrats. Denn gewaltsame Annexionen sind ein gewaltsamer Angriff gegen einen souveränen Staat. Da Kuweit sich selber nicht mehr wehren konnte, ermächtigte der UN-Sicherheitsrat die Staatengemeinschaft, Kuwait gewaltsam aus der Gewalt des Irak zu befreien. Es kam zu dem von den USA angeführten ersten Golfkrieg.

Geordnete Sezession
Kaum ein Staat sieht in seiner Verfassung und seinem Rechtssystem die Sezession oder Abtrennung eines Teils seines Staatsgebiets vor. Doch ein Staat kann nicht verbieten, dass ein Teil des Landes die Unabhängigkeit anstrebt. Eine Sezession verletzt das Völkerrecht nicht, weil es sich um einen Vorgang innerhalb eines Nationalstaates handelt. Doch aus dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker lässt sich ableiten, dass sich ein Teil eines Staates als unabhängiger Staat abspalten kann. Allerdings muss dies in einem auszuhandelnden demokratisch legitimierten Prozess erfolgen. Dies war beispielsweise der Fall bei der Trennung der Tschechoslowakei 1992/93 und bei der Trennung Süd-Sudans von Sudan im Jahr 2011.
Als jüngster Präzedenzfall hat der kanadische Supreme Court im Hinblick auf die Unabhängigkeitsbestrebungen der Provinz Québec folgendes Vorgehen bestimmt:

  1. Eine Sezession setzt voraus, dass das neue Gebiet verwaltungs- und regierungsfähig ist, über eine Bevölkerung als Staatsvolk verfügt und mit anderen Staaten völkerrechtliche Beziehungen eingehen kann.
    [Diese Bedingung erfüllte die Krim viel eindeutiger als der Kosovo sechs Jahre vorher. Die Krim ist mehr als doppelt so gross wie der Kosovo. Die Krim verfügte über funktionierende interne Verwaltungsstrukturen, während der Kosovo noch heute von der finanziellen, verwaltungs- und polizeitechnischen Hilfe der EU abhängig ist].
  2. Die von einer möglichen Sezession betroffene Bevölkerung muss in einer Abstimmung mit «deutlicher Mehrheit» einer Sezession zustimmen.
    [Diese Bedingung war auf der Krim unabhängig davon erfüllt, dass die Abstimmung nicht neutral überwacht war und es zu kleineren Unregelmässigkeiten kam. Dagegen war diese Bedingung im Kosovo nicht erfüllt, weil keine Abstimmung durchgeführt wurde. In Katalonien wollte die spanische Zentralregierung die Abstimmung über eine Sezession verhindern.]
  3. Der Zentralstaat ist verpflichtet, mit einer sezessionswilligen Region fair zu verhandeln. Verhandelbar müsste nicht nur eine grössere föderalistische Autonomie sein, sondern auch eine Sezession.
    [Diese Bedingung war in der Ukraine nicht erfüllt. Kiew war 2014 nicht bereit, mit der Krim über eine Sezession zu verhandeln.
    In Spanien wollte der Zentralstaat eine Volksabstimmung verhindern und Verhandlungen selbst dann verweigern, falls eine deutliche Mehrheit der Katalanen für eine Sezession stimmen würde. Das war bisher nicht der Fall. Aus Angst vor einem Präzedenzfall hat Spanien die Unabhängigkeit des Kosovo bis heute nicht anerkannt.]

Die Sezession des französisch sprechenden Juras vom Kanton Bern im Jahr 1979 verlief rechtsstaatlich geordnet und erfüllte sämtiche Kriterien des kanadischen Supreme Court. Seither gibt es den zusätzlichen Kanton Jura.
In der Ostukraine könnten sich die Unterzeichner des Minsker Abkommens – die Ukraine, Russland, Weissrussland, Deutschland und Frankreich – auf ein geordnet abzuwickelndes Sezessionsverfahren mit offenem Ausgang einigen, um diesen Konfliktherd zu beseitigen. Solche Bestrebungen sind jedoch nicht ersichtlich.

Ungeordnete Sezession
Als ungeordnet wird eine Sezession bezeichnet, welche die drei oben genannten Bedingungen nicht alle erfüllt. Darunter fallen in jüngster Zeit die Sezession 2008 des Kosovo von Serbien und 2014 die Sezession der Krim von der Ukraine. Trotz der Rechtswidrigkeiten konnten weder Serbien noch die Ukraine die Abspaltung verhindern. Serbien wurde mit schweren Militärschlägen daran gehindert, sich zu wehren. In der Ukraine genügte die russische Militärbasis, um ein Eingreifen der Ukraine zu verhindern.
Die Bewohner der Krim konnten nicht gegen das Völkerrecht verstossen, weder indem sie sich von der Ukraine loslösten noch indem sie sich Russland anschlossen. Beides betrifft nur die ukrainische Rechtsordnung. Gegen diese hat die Krim zweifellos verstossen mit der unbewilligten Abstimmung, die weder hinreichend vorbereitet noch offen noch unter neutraler Beobachtung stattfand.
Auch ungeordnete Sezessionen wie die der Krim oder des Kosovo verstossen nicht gegen das Völkerrecht, weil es innerstaatliche Konflikte sind. Aus diesem Grund hatte der Internationale Gerichtshof IGH in Den Haag im Jahr 2010 die Unabhängigkeit des Kosovo für rechtens erklärt. Es gebe zwar kein Recht auf Sezession, aber das Völkerrecht sei nicht verletzt worden, als der Kosovo seine Unabhängigkeit erklärte («the adoption of the declaration of independence of the 17 February 2008 did not violate general international law because international law contains no ‹prohibition on declarations of independence›». Eine einseitige, gegen nationales Recht verstossende Unabhängigkeitserklärung wie im Kosovo oder auf der Krim hat demnach nur innerstaatliche Bedeutung, aber vorerst noch keine völkerrechtliche Wirkung.
Es liegt dann an den anderen Staaten, ob und wann sie dieses neue Staatsgebilde als Staat beziehungsweise den Anschluss an einen anderen Staat anerkennen und damit völkerrechtlich sanktionieren wollen. Den Kosovo haben viele westliche Staaten – nicht aber Spanien – als unabhängigen Staat anerkannt. Einige ferne Kleinstaaten machten ihre Anerkennung des Kosovo als unabhängigen Staat allerdings rückgängig, wohl nachdem sie sich der Folgen bewusst wurden, welche die Anerkennung einer rechtswidrigen Sezession haben kann. Darunter Surinam, Sao Tome und Principe, Guinea-Bissau, Burundi, Papua-Neuguinea, Liberia, Lesotho, Grenada, Dominica, die Komoren, Madagaskar und die Salomon-Inseln. Am 11. September 2019 erklärte der tschechische Präsident Milos Zeman, er möchte die Anerkennung des Kosovos durch sein Land ebenfalls rückgängig machen. Er verhandle darüber mit den höchsten Regierungs- und Parlamentsvertretern in Prag. Das berichteten die Nachrichtenagentur CTK und Euronews.

Völkerrechtlich anders und eindeutig sieht es für Drittstaaten aus, die sich in den Prozess einer Sezession einmischen. Im Fall von Kosovo verstiessen Nato-Staaten gegen das Völkerrecht, als sie Serbien ohne Beschluss des UN-Sicherheitsrats bombardierten. Über 12‘000 Menschen kamen dabei ums Leben. Massnahmen gegen die beteiligten Nato-Staaten wie wirtschaftliche Sanktionen wären legitim gewesen. Doch kein Land hat solche Massnahmen ergriffen.

Im Fall der Abspaltung der Krim von der Ukraine und dem Anschluss an Russland kam es zu folgenden Verstössen gegen das Völkerrecht, die ebenfalls wirtschaftliche und politische Gegenmassnahmen rechtfertigen.
Erstens wäre russisches Militärpersonal wohl nicht befugt gewesen, ihre Militärbasis auf der Krim zu verlassen und damit durch Abschreckung der ukrainischen Zentralregierung die Sezession der Ukraine zu ermöglichen.
[Russland machte allerdings geltend, einem Unterstützungsgesuch des gestürzten ukrainischen Präsidenten Janukowitsch nachgekommen zu sein. Der nach Russland geflohene Präsident war zu jenem Zeitpunkt immer noch der legitime Präsident der Ukraine. Seine Absetzung durchs Parlament der Ukraine verfehlte das von der Verfassung vorgeschriebene Quorum von 75 Prozent der Stimmen.]

Zweitens hätte Russland die Krim nicht vorschnell als vollwertiges Mitglied der russischen Föderation aufnehmen dürfen. Zwischen der Abspaltung von der Ukraine und dem Anschluss an Russland vergingen nur drei Tage. Russland hatte sich im 1994 unterzeichneten Budapester Memorandum verpflichtet, die territoriale Souveränität der Ukraine zu respektieren. Russland verstiess damit gegen völkerrechtliche Verpflichtungen.
Diese beiden Verletzungen bedeuten jedoch nicht, dass Russland die Krim «annektiert» hat. Denn eine Annexion setzt militärische Gewaltanwendung voraus und erfolgt gegen den Willen der grossen Mehrheit der betroffenen Bevölkerung. Russland hat der Krim zwar mit Verstössen gegen das Völkerrecht geholfen, sich von der Ukraine loszulösen und sich Russland anzuschliessen. Doch dies ist nicht gleichzusetzen mit einer gewaltsamen Annexion gegen den Willen der Bevölkerung. Nur eine solche würde militärisches Eingreifen und drastische Sanktionen rechtfertigen.

Professor Reinhard Merkel macht eine weitere Überlegung: Man stelle sich vor, die Krim wäre nach der Sezession von der Ukraine zuerst zehn oder zwanzig Jahre unabhängig geblieben und hätte sich erst dann aus eigenem Willen Russland angeschlossen. Würde dann irgendjemand noch von Annexion sprechen, welche militärische oder wirtschaftliche Massnahmen rechtfertigt?

Der Wille der betroffenen Bevölkerung

Der Souveränität der Staaten steht im Völkerrecht das Selbstbestimmungsrecht der Völker gegenüber. Geordnete Sezessionen setzen wie oben beschrieben unter anderem voraus, dass eine deutliche Mehrheit der betroffenen Bevölkerung eine Sezession befürwortet. Der tatsächliche Wille des Grossteils der Bevölkerung ist tatsächlich von grosser Wichtigkeit und sollte von der internationalen Gemeinschaft nicht ignoriert werden. Wohl auch aus diesem Grund wird im Westen häufig bezweifelt, dass die Einwohner der Krim bei einer geordneten, fairen und überwachten Abstimmung eine Abspaltung von der Ukraine befürwortet hätten.

Zuerst gilt es festzuhalten, dass die Bewohner der Krim geheim abgestimmt haben und vor den Abstimmungslokalen kein russisches Militär stationiert war. Dieses befand sich vor den Kasernen der ukrainischen Armee. Einige zitieren gerne einen Bericht von «Zeit online» vom 5.5.2014 oder die Darstellung auf Wikipedia, wonach der «Russische Menschenrechtsrat», ein Beratergremium des russischen Präsidenten, festgestellt habe, dass die tatsächliche Wahlbeteiligung in der Stadt Sewastopol nur 30-50 Prozent und die Zustimmungsquote nur 50-60 Prozent erreicht habe. Offiziell wurde für die ganze Krim eine Abstimmungsbeteiligung von 83 Prozent und eine Zustimmungsquote von über 95 Prozent angegeben. Doch die Zahlen des «Menschenrechtsrats» standen auf wackligen Füssen: Zwei Mitglieder und Putin-Kritiker sind auf die Krim gefahren und redeten dort nach eigenen Angaben mit zwanzig Leuten, die gegenüber Russland überwiegend kritisch eingestellt waren. Sie hörten Stimmen wie: «Ach, da haben bestimmt keine 88 Prozent teilgenommen. Ich schätze nur dreissig» oder «es waren wohl höchstens fünfzig». Daraus schätzten die beiden «dreissig bis fünfzig Prozent Wahlbeteiligung». Dem Beitritt zu Russland habe zwar wohl die Mehrheit zugestimmt, aber vermutlich nur «fünfzig bis sechzig Prozent».

Tatsächlich hatte die militärische Präsenz der Russen auf das Abstimmungsergebnis keinen entscheidenden Einfluss. Es ist eine empirische Tatsache, dass die Einwohner der Krim grossmehrheitlich mit der Ukraine nichts zu tun haben wollten – dies bereits als in Kiew noch russlandfreundliche Präsidenten herrschten. Nachdem die Krim 200 Jahre lang zu Russland gehörte, schenkte sie Chruschtschow im Jahr 1954 dank einer Schnapslaune seinem Heimatland Ukraine. Allerdings war diese damals kein unabhängiger Staat, sondern gehörte zum Reich der Sowjetunion. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es auf der kulturell unterschiedlichen Krim stets grosse Anstrengungen, sich von der Ukraine abzugrenzen. Die von Moskau unabhängig gewordene Ukraine gewährte der Krim im Jahr 1991 vorerst eine Autonomie mit einer eigenen Verfassung und einem eigenen Parlament. Als im Jahr 1994 eine Verfassungsreform die Autonomierechte der Krim kräftig stutzte, sprach sich eine grosse Mehrheit der Ukrainer in einer Volksabstimmungsowohl für eine weitgehende Unabhängigkeit als auch für eine doppelte Staatsbürgerschaft Ukraine/Russland aus.
Darauf zwang die Regierung in Kiew die Krim, sich von der revidierten Verfassung wieder loszusagen.

Der Russland-Kenner Professor Reinhard Merkel bezeichnet es als «eine gesicherte Tatsache», dass trotz der Unsauberkeit der Abstimmung von 2014 «eine grosse Mehrheit der Krimbewohner den Anschluss an Russland wollte und auch nach wie vor will». Nach einem fast dreiwöchigen Aufenthalt auf der Krim im Frühsommer 2019 bestätigte dies auch Infosperber-Redaktor Christian Müller (siehe Infosperber-Dossier «KRIM: Annexion oder Selbstbestimmung»)

Der Schutz der Minderheiten

Es bleibt die Frage des Schutzes von Minderheiten. Bei der ungeordneten Sezession der Krim blieben die Minderheitsrechte ungeregelt. In einem geordneten Verfahren hätten deren Interessen nach den Vorgaben des kanadischen Supreme Court berücksichtigt und formell geschützt werden müssen. Doch hat eine Minderheit kein Recht, eine von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung gewünschte Sezession zu verhindern. Das anerkennt auch das Völkerrecht.
Die Minderheit der muslimischen Tataren auf der Krim war gegen einen Anschluss an Russland. Wer sich gegen diesen exponierte, wurde oft unzimperlich behandelt. Einzelfälle von Übergriffen sind im Westen allerdings aufgebauscht worden, um gegen Russland Stimmung zu machen.
Die heutige Regierung auf der Krim respektiert das Krimtatarisch als Nationalsprache und investiert auch in die Kultur dieser muslimischen Minderheit. Vergleiche entschuldigen kein Unrecht. Trotzdem sei darauf hingewiesen, dass die serbische Minderheit in Kosovo erheblich schlechter behandelt wird als die Minderheit der Tataren auf der Krim.

Das plötzlich bemühte Völkerrecht dient als Vorwand, um gegen Putin zu zielen

Von Norman Paech, emeritierter Professor für Völkerrecht an der Universität Hamburg und Aktiver in der Friedensbewegung.
Kein Ereignis hat das Völkerrecht derart ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung gerückt wie die Trennung der Krim von der Ukraine und ihre Eingliederung in die Russische Föderation. So einschneidend dieser Vorgang für die geopolitische Landkarte des eurasischen Raumes auch ist, so friedlich war sein Verlauf – aber so weit verbreitet war seine Verurteilung auf der Basis völkerrechtlicher Kriterien.
Die Kritik kam ausgerechnet von der Seite, die sich mit ihren Kriegen in Jugoslawien, Afghanistan, Irak und Libyen schwerster Verstösse gegen das Völkerrecht schuldig gemacht hat und anhaltende Verletzungen des Völkerrechts wie die Besetzung Palästinas durch Israel seit Jahrzehnten duldet.
Die Zahl der Toten und Verletzten, die Zerstörungen, das hinterlassene Chaos und die nachfolgenden Zerfallserscheinungen der Gesellschaften und ihrer Staaten sind unvergleichlich verheerender als der Wechsel der Krim von der Ukraine zur Russischen Föderation. Die Beschwörung des Völkerrechts jedoch ist derart nachdrücklich und intensiv, dass man den Eindruck gewinnen könnte, wir treten in eine neue Epoche der Aussenpolitik unter dem Primat des Völkerrechts ein. Betrachtet man die Vorwürfe und Argumente allerdings etwas näher, so wird schnell klar, dass es der geopolitische Gegner Putin ist, der die Kritik beflügelt und weniger der ihm vorgeworfene Verstoss gegen das Völkerrecht.
Norman Paechs völkerrechtliche Analyse zur Krim hier.

Die Legitimation von Sanktionen

Nach einer gewaltsamen Annexion sind Sanktionen in Form einer militärischen Intervention oder eines wirtschaftlichen Boykotts völkerrechtlich legitim.
Bei einer ungeordneten Sezession dagegen kommt es darauf an, ob Drittstaaten völkerrechtliche Verpflichtungen verletzt haben. Im Fall der Krim hat sich Russland über das Budapester Memorandum hinweggesetzt sowie militärisches Personal ausserhalb des Militärstützpunktes auf der Krim agieren lassen. Beides verletzte das Völkerrecht.

Wie bei innerstaatlichen Rechtsverstössen gibt es auch beim Völkerrecht unterschiedliche Schweregrade. Diese sind insbesondere dann zu gewichten, wenn es um die Legitimität eines militärischen Eingreifens oder um das Verhängen wirtschaftlicher Sanktionen geht.
Die erwähnten Völkerrechtsverletzungen Russlands wiegen – etwa im Vergleich zum völkerrechtswidrigen Krieg der USA gegen den Irak – sehr leicht.
Sie waren auch geringer als die Verletzungen des Völkerrechts auf Seiten der Westmächte im Fall von Kosovo. Dort wurde die Sezession von Serbien ohne Volksabstimmung vollzogen und mit Militärschlägen gegen Serbien abgesichert. Wie die russische Präsenz auf der Krim verhinderte auch in Kosovo eine fremde UNO-Streitmacht, dass Serbien die Abspaltung verhindern oder rückgängig machen konnte. Westliche Staaten hatten die Unabhängigkeit des Kosovo – gleich wie Russland im Fall der Krim – ebenfalls innerhalb weniger Tagen anerkannt.

Gegen die Ermöglicher der Sezession des Kosovo wurden keine Sanktionen verhängt, während die USA und die EU über Russland als Ermöglicher der Sezession der Krim harte Wirtschaftssanktionen verhängten. Beispielsweise kann Russland keine westliche Technologie zur Ölförderung mehr kaufen und keine Geschäfte mit westlichen Banken mehr abschliessen.
Die Halbinsel Krim wird speziell bestraft: Beispielsweise keine Flüge aus dem Westen, keine westlichen Kreditkarten, keine Bankomaten, keine Exporte in den Westen.

Der Ablauf auf der Krim im Jahr 2014

upg. Die Ereignisse im Jahr 2014 auf der Krim seien im Folgenden kurz zusammengefasst. Nach dem Putsch in der Ukraine, der Vertreibung des russlandfreundlichen Präsidenten Wiktor Janukowytsch am 22. Februar 2014 und der Installierung einer Nato-freundlichen Regierung in Kiew kam es auf der Krim zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen urkrainischen Statthaltern und prorussischen Demonstranten. Putschartig wählte das Parlament auf der Krim, das es seit der im Jahr 1991 zugestandenen Autonomie bereits gab, den Abgeordneten Sergej Aksionow zum «Ministerpräsidenten der Autonomen Republik Krim». Mit russischer Unterstützung wurden die ukrainischen Vertreter auf der Krim gestürzt. Es handelte sich um eine ungeordnete Abspaltung der Krim von der Ukraine. Die Sezession verstiess gegen die ukrainische Verfassung und gegen das «Budapester Memorandum» aus dem Jahr 1994, in dem die Vertragsmächte die territoriale Integrität der Ukraine garantierten.
Kurz darauf, am 16. März, organisierten eine Übergangsregierung und das Parlament auf der Krim ein Referendum, das nach ukrainischem Recht illegal war. Bei einer offiziell hohen Beteiligung stimmten über 90 Prozent für einen Beitritt zur russischen Föderation. Auch wenn die Abstimmung überstürzt und mit einigen Unregelmässigkeiten stattfand, steht fest, dass eine deutliche Mehrheit der Krim-Bevölkerung die Sezession von der Ukraine und den Anschluss an die russische Föderation befürwortete.
Russland nahm das Aufnahmegesuch, das Ministerpräsident Aksionow sofort stellte, umgehend an. Nur zwei Tage nach der Abstimmung auf der Krim wurde ein Vertrag zum Beitritt der Krim sowie der Stadt Sewastopol als 84. und 85. Föderationsmitglieder in den russischen Staatenbund unterzeichnet und nochmals zwei Tage später von Russland ratifiziert. Die Krim betrachtet sich seither als «unabänderlicher Teil der russischen Föderation». Als Amtssprachen wurden Russisch, Ukrainisch und Krimtatarisch anerkannt, der Rubel zur offiziellen Währung bestimmt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor hatte in Genf das Studium der Internationalen Beziehungen und des Völkerrechts abgeschlossen.

Zum Infosperber-Dossier:

Sperber.NurKopf.vonLinks.IS-Hintergrund

Des Sperbers Überblick

Kompaktes Wissen: Hier finden Sie die wichtigsten Fakten und Hintergründe zu relevanten Themen.

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KRIM Annexion oder Selbstbestimmung

Der Volkswille auf der Krim zählt nicht, weil die Ukraine an die Volksabstimmung nicht gebunden ist.

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Kritik von Zeitungsartikeln

Printmedien üben sich kaum mehr in gegenseitiger Blattkritik. Infosperber holt dies ab und zu nach.

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4 Meinungen

  • am 19.09.2019 um 19:01 Uhr
    Permalink

    In den westlichen Medien beginnt die Erzählung um den Ukrainekonflikt immer mit der «völkerrechtswidrigen Annexion» der Krim. Doch wie es überhaupt dazu kam, wird fast immer weggelassen, weil es nicht in das Narrativ passt.
    Dazu sagte der ehemalige CIA-Chefanalyst Ray McGovern:
    "Was die Medien den Menschen nicht erzählen, ist die Tatsache, dass wir angefangen haben.
    Der Chef eines der namhafttesten Denkfabriken überhaupt, «Stratfor», sprach im Dezember über den Putsch in Kiew und nannte jenen 22. Februar 2014
    den wohl unverholensten Putsch in der Geschichte der Menschheit.
    Das war der Auslöser des Ganzen. Falls Sie dachten Präsident Putin würde einfach nur dasitzen und sagen:"Wie schön, Jazenjuk will der Nato beitreten, toll!"
    Wenn sie wirklich dachten, dass das so ablaufen würde, dann müssen sie verrückt sein. Putin hat, und ich würde es ihm wohl gleichtun, seinem Sicherheitsapparat gesagt:
    "So Leute, es gibt einen Putsch. Die USA wollen die Ukraine in die Nato holen. Das Problem: Unsere einzige Frischwasserquelle, unser einziger eisfreier Hafen; Stützpunkte und
    Flughäfen liegen auf der Krim. Also, was unternehmen wir dagegen?» Sie haben sich gesagt, vielleicht müssen wir die Bewohner auf der Krim einfach fragen, ob sie für oder
    gegen das Putschregime sind. Und der Volksentscheid endete mit einem Ergebnis von 90 %. Das war zu erwarten."

    http://www.kontext-tv.de/de/sendungen/chaos-und-permanenter-krieg-wie-die-us-aussenpolitik-den-nahen-osten-und-osteuropa

  • am 19.09.2019 um 23:56 Uhr
    Permalink

    Hallo Urs P. Gache
    Mit Ihren Erläuterungen gehe ich einig.
    Es war eine Sezession.
    Da aber alles so schnell ablief, war es klar ein abgesprochener Schachzug der russ. Militärführung. Das Planspiel war schon lange durchgespielt worden. Man wartete nur auf einen günstigen Zeitpunkt und der kam mit dem Majdan wo die ukr. Führung mit sich selbst beschäftigt war.
    Strelkow brüstete sich, dass er den Jugoslawienkrieg geschürt habe und auch die Vorbereitungsarbeiten für die Sezession auf der Krim geplant habe.
    Dann tauchte er in der Ostukraine und trieb dort sein Unwesen, indem er die russ. Bevölkerung gegen die Ukraine aufstachelte.
    Es würde mich nicht wundern, wenn er am Abschuss der MH17 auch beteiigt war, wobei sie glaubten eine ukr. Militärmaschine getroffen zu haben.
    Wenn heute Russland behauptet am Ganzen nicht beteiligt gewesen zu sein, so ist das eine grosse Lüge. In den Augen des russ. Präsidenten musste die Krim zurück in die Russ. Föderation. Es kommt nicht von ungefähr, dass er einmal sagte: Überall wo Russisch gesprochen wird, ist es ein Teil der Russ. Föderation (RF) (sinngemäss). So unterstützte die RF die Abtrennung von Transnistrien (Moldau) und die von Abchasien und Südossetien (Georgien).
    Es ist schade, dass die Weltgemeinschaft nicht bereits 2008 reagiert hat, wie es 2014 geschah, denn dann hätten sich die russ. Machthaber vermutlich nicht an die Krim zu vergreifen gewagt. (Hypthese)
    Zum Kosovo, da herrschte Krieg und die muslimische Bevölkerung wurde ermordet.

  • Portrait_Gnther_Wassenaar
    am 22.09.2019 um 12:12 Uhr
    Permalink

    Werter Herr Jean-Claude Weber,
    Haben Sie sich mal die Landkarte angesehen, dort verglichen wie der Stand der NATO im Jahre 1989 war und wie er heute aussieht? Wenn Sie diesen Vergleich ziehen, können sie klar erkennen, wo der Aggressor zu suchen ist.

    Hinzu kommt eine weitere Betrachtung. Welche Aggressions-Kriege (nach der Position der UN-Charta) hat bisher die UdSSR/Russland verübt? Stellen sie dieser Aufstellung doch bitte mal die Kriege zusammen, die von den USA/NATO und ihren Vasallen seit 1945 verübt wurden, falls Sie dazu genügend Papier haben. Aber bitte nicht Kriege nach der Benennung der CIA oder der westlichen Medien einordnen, da dort die UN-CHarta keine Rolle spielt.

    Nur ein Beispiel dazu: Aufgrund der «Annektion» der Krim, wurde Russland mit «Sanktionen» also mit Wirtschaftskieg belegt und bedroht.

    Der Staat Israel hat nach den Aggresionskrieg vor vielen Jahren, Gebiete der Nachbarn annektiert, will diese jetzt zu seinen Staatseigentum erklären. Welche Sanktionen werden seitens der USA/NATO gegen diesen tatsächlichen Aggressor – auch in Beschlüssen der UNO so erklärt – verhängt?

    Könnte es sein, dass da mit ZWEIERLEI Maß gemessen wird – und dass hier mit voller Absicht Russland zum Feind auserkoren wurde, weil der nächste Ostland-Ritt in Vorbereitung ist? Könnte es sein, dass SIE auf diese Kriegspropaganda voll hereingefallen sind, weil Sie das eigene Nachdenken unterlassen?

  • am 9.12.2019 um 17:58 Uhr
    Permalink

    @Günther Wassenaar siehe dazu

    ARD: General a.D. Heinz Loquai zum Jugoslawien-Krieg! Kein UN-Mandat, SPD / Grüne Kriegsverbrecher?
    https://www.youtube.com/watch?v=GLLZTX2gaw4

    "Vertrag von Rambouillet
    .
    .
    „Der Rambouillet-Text, der Serbien dazu aufrief, den Durchmarsch von NATO-Truppen durch Jugoslawien zu genehmigen, war eine Provokation, eine Entschuldigung dafür, mit den Bombardierungen beginnen zu können. Kein Serbe mit Verstand hätte Rambouillet akzeptieren können.
    .
    .
    – Henry Kissinger
    .
    .
    https://de.wikipedia.org/wiki/Vertrag_von_Rambouillet

    MH17: Bundeswehr-General a.D. verdächtigt Ukraine des Massen-Mords (D., ENGL.)
    https://www.youtube.com/watch?v=nttTLjtGKds&t=138s

    Scharfschützen auf dem Maidan-Platz
    https://www.youtube.com/watch?v=Zm8duuDhvys

    US-Verteidigungsminister Mattis: «Keine soliden Beweise für Chemiewaffenangriff»
    https://www.heise.de/tp/features/US-Verteidigungsminister-Mattis-Keine-soliden-Beweise-fuer-Chemiewaffenangriff-4023021.html?seite=all

    Ohne den Irakkrieg würde es den «Islamischen Staat» heute nicht geben – das gibt der damalige Chef der Special Forces, Mike Flynn, zu.

    https://www.spiegel.de/politik/ausland/ex-us-geheimdienstchef-mike-flynn-ueber-den-is-wir-waren-zu-dumm-a-1065038.html

    Der afghanische Ex-Präsident Karzai lobt den Einsatz Deutschlands am Hindukusch – und räumt gleichzeitig ein, dass er fast nichts gebracht hat.
    https://www.spiegel.de/politik/ausland/hamid-karzai-ueber-afghanistan-wir-sind-grandios-gescheitert-a-1212098.html

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