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PVC-Weihnachtsbäume made in China © -

In der Stadt Yiwu ist immer Weihnachten

Peter G. Achten /  Nicht nur im Westen, sondern auch in der chinesischen Stadt Yiwu weihnachtet es sehr. Aber das ganze Jahr über. Warum?

Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping ist die für chinesische Verhältnisse mittelgrosse Stadt Yiwu mit 1,2 Millionen Einwohnern wohlbekannt. Xi nämlich war einst bei seinem Aufstieg an die Spitze des Reichs der Mitte Parteichef der Provinz Zhejiang. Yiwu war und ist in dieser quirligen Provinz unweit von Shanghai eine jener Städte, die wohl den wettbewerbsorientierten Kapitalismus erfunden hätten, wäre er nicht schon einst in Old Europe erdacht worden.

Die umtriebigen und einfallsreichen Kleinkapitalisten und Kapitalistinnen von Yiwu und Umgebung haben sich auf Kleines konzentriert und haben damit Erfolg. Von Spielzeugen bis hin – eben – zu Weihnachtsutensilien wird alles schnell, wohlfeil und in guter Qualität produziert.

«Handel mit Kleinwaren»

Die Stadt hundert Kilometer südlich der Provinzhauptstadt Hangzhou und eine Superschnellzugstunde entfernt von Shanghai hat es selbst zu einem kurzen Eintrag in Wikipedia geschafft: «Yimu ist ein wichtiges Zentrum für den Handel mit Kleinwaren». In der Tat, wer den Markt für Grosshändler mit Zehntausenden von Ständen besucht, kommt aus dem Staunen nicht heraus.

Allein in der Weihnachtsabteilung bieten Tausende von Produzenten alles an, was Weihnachten eben zu Weihnachten macht: von künstlichen Schneeflocken über rote Nikolausmützen bis hin zu bunter Beleuchtung, echten sowie vor allem Kunststoff-Weihnachtsbäumen und Christbaumkugeln.

«Chinas Weihnachtsdorf»

Fast tausend Fabriken und Werkstätten erwirtschaften nach offiziellen Zahlen 95 Prozent des lokalen Sozialprodukts. Allein mit Weihnachtswaren wird nach der Statistik des Zollamtes von Hangzhou ein Umsatz von umgerechnet drei Milliarden Dollar erzielt. Noch eindrücklicher: 60 Prozent aller Weihnachtsdekorationen und Kleinwaren weltweit stammen aus Yimu. Kein Wunder deshalb, dass Yimu auch als «Chinas Weihnachtsdorf» bekannt ist.

In den Fabriken arbeiten vor allem Wanderarbeiter. Sie verdienen mit rund 200 Yuan am Tag – umgerechnet 30 Franken – relativ gut. Sie malochen dafür aber pro Tag zwölf Stunden und pro Woche sechs Tage. Die Provinz Zhejiang und mithin auch Yimu sind mittlerweile auf der von Parteichef Xi Jinping stark geförderten «Neuen Seidenstrasse» durch direkte, über 10’000 Kilometer lange Güterzugstrecken mit Europa verbunden. Die Waren können so billiger und schneller transportiert werden als auf dem Seeweg.

«Jeden Tag Christbäume»

Für Weihnachten gearbeitet wird das ganze Jahr über. Zum Beispiel schöne weisse Kunststoff-Schneeflocken, wenn es im Sommer weit über dreissig Grad heiss ist. Der Direktor der Sinten-An Weihnachtsbaumfabrik sagte einem Reporter der Fernsehstation Al Jazeera: «Ausser am Frühlingsfest (Chinesisches Neujahr Ende Januar, Anfang Februar; Anm. d. Red.) machen wir jeden Tag Christbäume». Dreissig Prozent aller Weihnachtswaren exportiert Yimu in die USA, den Rest nach Europa. Doch auch China wird von Jahr zu Jahr wichtiger im Weihnachtsgeschäft.

Aufblasbarer Nigginäggi

Im heute chinesischen Hong Kong und Macao hielt der Weihnachtsrummel bereits unter britischer beziehungsweise portugiesischer Kolonialherrschaft in den 1970er- und 1980er-Jahren Einzug. Ohne religiöse Konnotation natürlich, rein kommerziell. Und wie! Damals, als Ihr Korrespondent nach Peking kam, war der Heilige Abend wirklich und buchstäblich noch Stille Nacht, Heilige Nacht. Bei Einbruch der Dunkelheit blieb es dunkel. Das Leben beruhigte sich. Heute ist es wie anderswo in der globalisierten Welt: Lichtermeer, mit farbigen Papiergirlanden und Papier-Lampions geschmückte Christbäume, Weihnachtslieder in den Kaufhäusern als Hintergrundmusik, grosse rote, aufblasbare Nikolause und was der Weihnachtsdekorationen mehr sind.

Acht-Kostbarkeiten-Gans

Am Heilig Abend und an Weihnachten flanieren mit roten Nigginäggi-Mützen auf dem Kopf Hunderte, ja Tausende im Zentrum Pekings. Shoppen steht ab Mitte, Ende November natürlich auch in China zuoberst auf der weihnächtlichen Traktandenliste. Man trifft sich aber zum Fest auch mit Freunden oder in der Familie, beschenkt sich gegenseitig und isst gut. Anstelle des amerikanischen Vorbilds des Truthahns wird Ba Bao Ya – die Acht-Kostbarkeiten-Gans – zubereitet. Der Weihnachtsbaum heisst Chinesisch «Baum des Lichts» und Santa Claus wird wörtlich als «alter Weihnachtsmann» übersetzt.

«Westliche Werte»

Einigen, nicht zuletzt innerhalb der allmächtigen Kommunistischen Partei, geht das zu weit mit diesen «neuen, westlichen Werten». Doch eine Umfrage beim Staatsfernsehen – ja, das gibt es im Unterschied zur Schweiz tatsächlich in China – zeigt, dass alles halb so schlimm ist. Es gehe, so viele der Befragten, ganz einfach um ein zusätzliches Fest. Doch nicht nur einige KP-Mitglieder finden das kommerzialisierte Weihnachtsfest des Guten zu viel. Auch vielen Christen – je nach Schätzungen zwischen dreissig und achtzig Millionen in China – geht der kommerzielle Festtags-Rummel zu weit. Obwohl der 25. Dezember in China ein ganz normaler Arbeitstag ist, sind jedoch am Heilig Abend bei der Mitternachtsmesse in Peking oder Shanghai die Kirchen zum Bersten voll.

Die Chinesinnen und Chinesen leben mit Weihnachten in der besten aller Welten. Denn nach Weihnachten kommt für sie das zweite, das ganz grosse Ereignis: Chinesisch Neujahr, bekannt auch als Frühlingsfest. Es ist das Familienfest par excellence. Während zwei Wochen stehen in China die Räder still.


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