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Erdogan kündigt seit Wochen eine «dritte Operation» der türkischen Truppen in Syrien an © gk

US-Truppenabzug aus Syrien – gezielter Steilpass für Erdogan?

Amalia van Gent /  Die Türkei versteht den Abzug der US-Truppen aus Syrien als grünes Licht für einen eigenen Feldzug gegen die syrischen Kurden.

Der amerikanische Präsident Donald Trump mag seit seinem Wahlsieg mit seinen Tweets die Politiker im In- und Ausland immer wieder überrascht haben, doch sein Tweet am Mittwoch hat die Nahost-Strategen weltweit buchstäblich irritiert. «Wir haben gegen den IS gewonnen», teilte er der Öffentlichkeit mit. Da die Niederlage der Dschihadisten für seine Präsidentschaft den einzigen Grund für den Verbleib der amerikanischen Truppen in Nordsyrien gebildet habe, sei es «nun an der Zeit für unsere Soldaten, nach Hause zu kommen».

Der Abzug der amerikanischen Truppen aus Syrien war gewiss eines der wichtigsten Wahlversprechen des amerikanischen Präsidenten. Allerdings hatte noch vor zwei Tagen sein Spezialbeauftragter für Syrien, Botschafter James Jeffrey, alle seine Gesprächspartner in der Region versichert, die USA würden in Syrien solange bleiben, bis erstens die Dschihadisten endgültig geschlagen, zweitens der Einfluss des Irans eingedämmt und drittens eine politische Lösung für Syrien erreicht worden seien. Dieses Versprechen liess einen Verbleib für lange Zeit vermuten. Was nun also? Gehen die Amerikaner oder bleiben sie doch? Trump soll laut Medienberichten den Abzug des US-Personals aus Syrien «innerhalb der nächsten 24 Stunden» verordnet haben. Der amerikanische Präsident hat es also besonders eilig.

Zukunftsweisendes Telefonat

Trumps Tweet folgte offensichtlich einem Telefonanruf von seinem türkischen Amtskollegen, Recep Tayyip Erdogan, am selben Tag. Erdogan kündigt seit Wochen unablässlich eine «dritte Operation» der türkischen Truppen auf syrischem Territorium an. «Wir werden alle Terror-Strukturen östlich des Euphrats zerstören und die Terroristen in ihren Schutzgräben begraben», erklärte er sinnbildlich auch Anfang dieser Woche vor seinen Wählern.

Mit «Terrorstrukturen» wird in der Türkei in erster Linie das kurdische Selbstverwaltungsgebiet im östlichen Nordsyrien gemeint, das die dort ansässigen Kurden liebevoll «Rojawa» nennen. Rojawa umfasst fast ein Drittel des syrischen Territoriums und die Mehrheit der syrischen Erdölquellen. Die syrischen Kurden hatten nach 2014 in enger Allianz mit den Amerikanern und europäischen Ländern die Dschihadisten des IS aus diesem Gebiet vertrieben und ihr Selbstverwaltungsgebiet Rojawa errichtet. Rojawas Provinzen und Städte wie Qasimli blieben bis vor kurzem vom Grauen des syrischen Kriegs weitgehend verschont und galten als eine Region, in der ein vergleichsweise friedliches Nebeneinanderleben der unterschiedlichen Kulturen möglich war. Weil die in Rojawa dominierende kurdische Partei PYD ideologisch der kurdischen PKK-Bewegung der Türkei nahe steht, gelten ihre Mitglieder Erdogan aber lediglich als Terroristen.

Der türkische Einmarsch in Nordsyrien sei eine Frage von Tagen, sagte Erdogan Anfang dieser Woche. Dann ergänzte er in einem für ihn eher ungewohnt konzilianten Ton, dass die Operation sich keineswegs gegen die amerikanischen Truppen richte. Es wäre allerdings gut, wenn die USA ihre Truppen aus der Frontlinie abziehen würden, kommentierte daraufhin die regierungsnahe türkische Presse unisono. «Erdogans Botschaft an die Amerikaner war, dass Ankara nicht mehr bereit ist, lange mit seinem Einmarsch zu warten», kommentierte Sami Kohen, ein alter Fuchs der türkischen Presse. Erdogan habe Trump einfach mitgeteilt, das Feld zu räumen, folgerte auch der amerikanische Kommentator Eduard Stafford. Den nun verordneten Abzug der amerikanischen Truppen sehen die meisten türkischen Kommentatoren jedenfalls als einen «diplomatischen Sieg Erdogans». Fortan werde Erdogan in allen bilateralen Streitfragen eine ähnliche Reaktion Washingtons erwarten, schrieb etwa der Experte Bülent Aliriza.

Ihre etwas gemütskühleren amerikanischen Kollegen vermuten hingegen hinter dem Abzug sachfestere Überlegungen – nämlich einen für die USA vielversprochenen Waffenkauf. Demnach soll Erdogan beim Telefonanruf mit Trump seinem amerikanischen Gesprächspartner den Kauf des amerikanischen Abwehrraketen-Systems «Patriot» in Aussicht gestellt haben – gemäss übereinstimmenden Presseberichten ein Auftrag für die amerikanische Waffenindustrie in Höhe von 3,5 Milliarden Dollar. Im Zeitalter des «America first» zählen solche Beträge schwer – schwerer jedenfalls als irgendwelche moralischen Werte oder Versprechen.

Reaktion von Moskau und Teheran unklar

Noch ist völlig unklar, wie Russland auf einen neuen Einmarsch türkischer Truppen in Nordsyrien reagieren wird. Russland prangerte die Präsenz der amerikanischen Truppen in Nordsyrien zwar schon immer als «illegal» an. Die amerikanischen Truppen waren in der Tat weder von Damaskus eingeladen noch waren sie in Nordsyrien aufgrund eines UN-Mandats. Moskau hat deshalb den Abzug der amerikanischen Truppen gefordert. Um den Einfluss der Südostflanke der NATO im Gebiet einzudämmen, hatte die russische Führung Anfang dieses Jahres gar grünes Licht für einen genauso illegalen, völkerrechtlichen Einmarsch der Türken in der kurdischen Provinz «Efrin» im Nordwesten Syriens gegeben – und hatte zugleich ebenfalls einen «Waffendeal» mit Ankara abgeschlossen. Dieser sah den Kauf des technologisch hochsensiblen russischen Raketen-Abwehrsystems «S-400» vor im Wert von 2,5 Milliarden Dollar.

Am Mittwoch hat die Türkei versichert, beide Systeme kaufen zu wollen. Gegen welchen «Feind» das Land so viele teure Abwehrsysteme braucht, wird in Ankara vorerst nicht thematisiert. Zum ersten Mal seit einem Jahr äusserte aber die russische Regierung Zweifel an den Absichten der Türkei: Russland vertraue doch der Türkei, dass sie «keine Geheimnisse des S-400-Systems der NATO verraten» werde, erklärte der Pressesprecher im Kreml Dmitry Peskov. Der neue Deal der Türkei und der USA macht Russland unruhig, wie übrigens auch Iran. Die Frage, ob die Türkei einmal mehr die Seite wechsle, wollte der iranische Präsident Rouhani bei einem ausserordentlichen Besuch in Ankara am Mittwoch abklären.

Die Türkei als Faktor der Destabilisierung

Wechselt die Türkei noch einmal die Seiten? Mit der erklärten Absicht, den syrischen Herrscher Baschar al-Assad zu stürzen, habe der türkische Präsident nach 2012 eine «Autobahn für Dschihadisten» zwischen der türkischen Stadt Urfa und der damaligen Hochburg des IS in Syrien Raqqa errichtet und fundamentalistische Kämpfer aus aller Welt mit «Waffen, Geld und sonstigen logistischen Mitteln unterstützt», sagte David Phillips am Mittwoch. Er muss es wissen, hatte er doch als aussenpolitischer Berater der amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama gedient. Phillips warnte eindringlich vor einer neuen türkischen Operation in Syrien. Der Abzug der amerikanischen Truppen mache ihre kurdischen Alliierten in Syrien unausweichlich zum Freiwild der türkischen Kriegsmaschinerie, erklärte er. Ohne jeglichen Schutz des Luftraumes über Rojawa würden kurdische Kämpfer und Zivilisten dem schonungslosen Bombardement der türkischen Luftwaffe ausgeliefert. Sollte auch das Rojawa östlich von Euphrat dem Beispiel von Efrin folgen?

60 Tage lang hatte die türkische Luftwaffe Anfang des Jahres die Provinz Efrin im Nordwesten Syriens bombardiert und Strassen, Brücken und Wasserwerke zerstört. Nach dem Fall der Stadt Efrin wurden rund 200’000 Zivilisten in die Flucht getrieben. «Die Kurdinnen und Kurden haben gegen den IS gekämpft. Dennoch haben bei der Invasion in Efrin alle geschwiegen», erklärte am Mittwoch der aussenpolitische Sprecher der kurdischen PYD Salih Muslim bitter. Auch wenn die türkischen Invasionen in Syrien völkerrechtswidrig sind, erwartet Muslim keine Reaktion der NATO oder der UNO gegen die türkische Armee. Da keine neue Flüchtlingswelle in Richtung Europa droht, erwartet er auch keinen Protest seitens der EU. Eine bis zu drei Meter hohe, von der Türkei vor kurzem gebaute Mauer entlang der syrisch-türkischen Grenze wird jeden potentiellen Flüchtling für eine Reise in die Türkei und danach nach Westeuropa entmutigen. Flüchtlinge könnten sich nach einer neuen türkischen Invasion höchstens in Richtung des Nordiraks bewegen und das kurdische Gebiet auch dort destabilisieren, sagte Salih Muslim. Er warnte davor, dass die neo-osmanischen Träume des türkischen Präsidenten Erdogan nicht nur eine Gefahr für die Kurden seien. Vielmehr seien sie eine Bedrohung für die gesamte Region.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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2 Meinungen

  • am 21.12.2018 um 17:50 Uhr
    Permalink

    Meiner Ansicht nach repräsentiert Trump die dunkle Seite der amerikanischen Nation. Das Gute daran: Er zwingt die Heuchler unserer Welt, sie wahrzunehmen. Die Ironie dabei: Er tut das Richtige zur falschen Zeit, aus den falschen Gründen und mit einem falschen Vorgehen. Er dürfte also noch für weitere Überraschungen gut sein.

  • am 23.12.2018 um 12:34 Uhr
    Permalink

    Ich m�chte an dieser Stelle folgendes festhalten:
    Der Aufenthalt der US-Truppen in Syrien ist ein eklatanter Verstoss gegen das V�lkerrecht.
    (Nat�rlich haben auch englische, franz�sische und israelische Spezialeinheiten und das t�rkische Milit�r nichts zu suchen in Syrien.)
    Als Freund und Verfechter des V�lkerrechts begr�sse ich Trumps Entscheid!

    Was die Kurden der Rojava anbelangt:
    Vor dem sog. Arabischen Fr�hling hat die Regierung Assad vielen Kurden, welche vor den t�rkischen H�schern flohen, quasi Asyl angeboten.
    Nach Ausbruch des Syrien Kriegs haben sie dann mehrfach ihre Position gewechselt.
    In der j�ngeren Vergangenheit haben sie wiederholt Verhandlungen mit der legitimen, demokratisch gew�hlten Assad-Regierung ausgeschlagen.
    Und sie beanspruchen derzeit ca. 30% ds syrischen Territoriums inklusive der Quellen der fossilen Brennstoffe und dem Gebiet, welches die wichtigen Transit-Pipelines beherbergt. Dieses Gebiet k�nnen sie nur mit Hilfe der US-Truppen halten. Diese Region mit all seinen Sch�tzen ist essentiell f�r den Wiederaufbau des multi-ethnischen und multi-religi�sen Syriens! Es ist imho ziemlich egoistisch von den Rojava-Kurden, diese Assets nicht mit den regul�ren Eigent�mern teilen zu wollen.

    *Falls* die US-Truppen �stlich des Euphrats tats�chlich abziehen, bleibt den Rojava-Kurden nichts anderes �brig als sich mit Assad zu arrangieren, andernfalls k�nnten sie tats�chlich unter die (t�rkischen) R�der kommen.

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