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Viele Wege und Transportmittel führen in die ewige Stadt - hier der Petersplatz © flickr

Anders Reisen: Auf dem Velo nach Rom

Hanspeter Guggenbühl /  In einer Woche kann man mit dem Flugzeug um die Welt jetten. Oder auf dem Velo nach Rom pedalen. Teil 1: Von Chiasso ans Meer.

red. Mit der Serie «Anders Reisen» zeigt Infosperber, wie sich die Konflikte zwischen wachsendem Reisekonsum, Umweltbelastung und Klimawandel entschärfen lassen. Heute mit einer fast schon historischen Reportage über eine Veloreise im Jahr 1990 nach Rom, die der Autor 1991 schrieb und im damaligen Magazin der Basler Zeitung veröffentlichte. Der Reisebericht in zwei Teilen wird mit einigen Aktualisierungen ergänzt.

Die Gesichtshaut spannt, die Ohren rauschen. Einzig Lastwagen, die überholen, bieten einige Sekunden Entspannung vor der steifen Brise. Doch Lastwagen begegne ich nur noch selten, seit ich in Merate die Hauptstrasse verlassen habe, die mich aus der Agglomeration Como hinausführte.

Gestartet bin ich am Morgen in Chiasso. Das ist ein guter Ausgangspunkt auch für andere Veloreisen durch Italien, weil man diesen Grenzort aus der Nordschweiz mit der Bahn schnell erreicht und das Velo im Zug mitnehmen kann.

In der Poebene bestimmt der Wind

Auf topfebenen Nebenstrassen folge ich nun dem Lauf der Adda zur Po-Mündung. Der Wind bestimmt hier alles, denn innert Tagesfrist ändert der Wind in der Po-Ebene seine Richtung nie. Weht er von Norden, so macht er die 160 Kilometer lange Fahrt von Chiasso nach Fiorenzuola d’Arda, einer Kleinstadt zwischen Piacenza und Parma, zur lockeren Einrolletappe, weiss ich von einer früheren Italienreise. An diesem Tag aber bläst er aus Südosten, bläst mir den Schweiss hinter die Ohren, die Wärme aus dem Oberkörper und schliesslich den Mumm aus den Knochen.

Gegenwind wirkt für Velofahrer wie ein steiler Pass, aber ohne Vorfreude auf die Abfahrt. Das pausenlose Rauschen drückt auf die Psyche. Die Wut, die sich in den ersten Stunden dem Wind noch entgegen stemmt, weicht am Nachmittag der Resignation. Den Körper tief über den Lenker gebeugt, übergebe ich die Beine ihrem sich verlangsamenden Rhythmus und bringe so die Po-Ebene hinter mich.

Die Route des Autors von Chiasso nach Rom führt meist über verkehrsarme Nebenstrassen. Versal: Start und Zielorte. Illustration: Bruno Dünner

Ich bin auf der Fahrt nach Rom. Viele Wege führen dorthin. Die meisten bin ich schon gefahren – mit dem Finger auf Landkarten, auf der Suche nach einer Route, die möglichst viele ersehnte Gegenden erfasst, über verkehrsarme Nebenstrassen führt und trotzdem nicht allzu stark vom direkten Weg abweicht. Das muskelbetriebene Zweirad ist das dreidimensionale Gefährt, mit dem sich Fortbewegung, körperliche Betätigung und Landschaftserfahrung kombinieren lässt. Im Gegenwind aber bleibt die Landschaft auf der Strecke; das Velo reduziert sich an diesem ersten Reisetag zum Tran-Sport-Mittel.

Im Apennin rinnt der Schweiss

Der kürzeste Weg von Fiorenzuola ans tyrrhenische Meer führt Richtung Parma und dann über den Cisa-Pass, doch der Verkehr auf dieser Hauptstrasse ist mörderisch. Ich verlasse Fiorenzuola deshalb auf der Regionalstrasse Richtung Bardi. Auf den ersten Kilometern brausen mir noch die Autopendler entgegen. Nebelbänke unterbrechen die fahlen Strahlen der aufgehenden Sonne, nässen die Haut und kühlen den Körper. Vor Castell› Arquato schälen sich die ersten Hügel des Apennin aus dem Dunst. Die Strasse steigt, die Sonne steigt, meine Stimmung steigt, und der Nebel bleibt zurück.

In Italien folgen die Nebenstrassen weitgehend dem Gelände – offenbar fehlt hier das Geld, um jede Windung zu begradigen, jeden Einschnitt zu überbrücken und jede Kuppe zu kappen. Das erhält den Reiz der Landschaft und fördert die Fitness des Radfahrers: Gar mancher Höhenmeter, den ich auf dem Weg zum tausend Meter hohen Passo Pellizone überwinde, zerrinnt wieder in kurzen Zwischen-Abfahrten. Wunderschöne Ausblicke von der kurvenreichen Bergstrasse hinab in kaum besiedelte Täler und hinüber auf bewaldete Hügel entschädigen für die Anstrengung.

Bardi, ein mittelalterliches Nest, taucht auf der Abfahrt vom Passo Pellizone aus dem Niemandsland auf. Der einsame Radtourist, der auf dem Dorfplatz rastet und seinen Bauch mit Kalorien füllt, erregt hier Aufmerksamkeit: Woher er komme, wird gefragt und sein Velo – ein Renner, aber mit Gepäckträger, Dynamo und Schutzblechen ausgestattet – fachmännisch gemustert. Wieviele Übersetzungen? Zwölf. Und wie schwer? Etwa zwölf Kilo. Plus fünf Kilo Gepäck. Letzteres weiss ich genau, denn ich habe mit der Waage gepackt. Zumal auf bergigen Strecken wie der heutigen wird jedes überflüssige Pfund zum bremsenden Ballast.

Bald nach Bardi steigt die Strasse wieder, diesmal regelmässig, hinauf zu einem Übergang ohne Namen. Ausser einigen dreirädrigen Transportrollern, in denen sich die Bauern mit ihrem Gerät fortbewegen, begegnet mir hier kein einziges Fahrzeug. Die üppige Landschaft summt und zirpt unter der mittlerweile sengenden Sonne. Der Schweiss rinnt lautlos. Oben auf der Passhöhe ersetzt ein Kriegsdenkmal die Höhentafel. Ich verzichte auf Gipfelrast und Kleiderwechsel. Die warme Luft, die mir auf der Fahrt hinunter ins Val di Taro entgegen strömt, trocknet das schweissnasse Leibchen, ohne den Körper zu kälten.

Letzte Hürden vor dem Mittelmeer

Nach Borgo di Val Taro, Sommerfrische und Wintersportort, erwarten den Velofahrer nochmals fünfhundert Höhenmeter: Der Baracetello-Pass ist vor allem im oberen Teil unitalienisch steil. Oder empfinde ich das nur, weil ich bereits hundert hügelige Kilometer in den Beinen habe? Ich schalte in die kleinste Übersetzung, doch der Tritt bleibt eckig. Kurbeldrehung um Kurbeldrehung stemme ich mich aufwärts. Die Anstrengung drückt mir auf den Magen. Endlich, noch hundert Meter, noch fünfzig – das verlassene Haus, das die Passhöhe markiert, ist erreicht, das letzte grosse Hindernis vor dem Meer überwunden. Auf der Abfahrt jubelt das Herz.

Unten in Pontremoli zweigt mein Weg in die Hauptrasse ein, die vom Cisa-Pass hinab führt. Noch ist Siesta, der Verkehr einigermassen erträglich. Und der Wind bläst mir diesmal in den Rücken. Im 40-Kilometertempo rollt’s, dem Fluss Magra entlang, der Küste entgegen.

Voller Sehnsucht habe ich mir an langen Winterabenden vorgestellt, wie es sein wird, wenn nach dem letzten Apenninenpass das Meer auftauchen wird. Jetzt ist es soweit: Ein kurzer Aufstieg noch, dann fällt der Blick steil hinunter auf Lerici. Der Hafen des alten Fischerstädtchens ist mit hunderten von bunten Booten gefüllt, die auf den sanften Wellen schaukeln. Pittoresk, aber Kulisse, denn längst hat der Fremdenverkehr hier die Fischerei als wichtigsten Erwerbszweig abgelöst. Im alten Hotel Italia (das heute nicht mehr existiert) sagt mir die Besitzerin, sind «Cyclisti» besonders willkommen. Preisermässigung bekommen sie deswegen allerdings nicht.

Der Kontrast hätte grösser nicht sein können: Am frühen Morgen verabschiedete ich mich von der geschäftigen Poebene, tagsüber querte ich die einsame Berglandschaft, und in der Abendsonne tauche ich ein zum ersten Bad ins touristisch umsäumte Mittelmeer. Auf der Autobahn von Parma nach La Spezia lassen sich diese Welten innert einer Stunde überbrücken – aber auch erfahren?

Verkehr in zweifacher Form bei Viareggio

Beim ersten Aufstieg in der Morgensonne sind die Beine bleischwer; die strengen Etappen der beiden Vortage wirken nach. Doch nach einigen Kilometern verschwindet die Müdigkeit. Ich folge dem kurvenreichen Strässchen, das von Lerici aus auf halber Höhe dem Küstengebirge entlang südostwärts führt. Duft von Kiefern steigt mir in die Nase. Der prächtige Rundblick aufs blaue Meer, hinüber zur Halbinsel von Portovenere lädt zum Bummeln ein. Bolzen kann ich später noch genug.

Velofahren ist vielfältig. Da gibt es die Alltagsfahrer, die das Velo als schnelles Verkehrsmittel in städtischen Agglomerationen nutzen; ihnen liegt Rom fern. Da gibt es die Naturfreunde, die an freien Tagen auf Nebenstrassen und separaten Radwegen ins Grüne fahren<; ihnen graust vor dem Verkehr. Da gibt es die Gentlemen, die auf ihrem leichten Gerät den Zürichsee umrunden, als Saisonhöhepunkt vielleicht den Klausen überqueren oder mit dem Velo auf dem Autodach ins Trainingscamp reisen. Für sie ist es unvorstellbar, mehr Gepäck als den unter den Sattel geschnallten Ersatzpneu zu transportieren. Velo-Reisende aber treffe ich selten an. Erst in den letzten Jahren haben einige Veranstalter diese alte Form der touristischen Ortsverdänderung neu entdeckt. Wer auf eigene Faust mit dem Fahrrad über grosse Distanzen reist, sei es nach Rom, Wien oder Barcelona, ist - velozipedisch betrachtet - ein Zwitter: Im Extremfall ein ortsflüchtiger, bewegungssüchtiger, landschaftslüsterner, fernwehgeplagter, nutzenergiebewusster Mensch, für den es ideologisch undenkbar ist, sein Velo anders als mit körpereigener Energie fortzubewegen. Ganz so extrem bin ich nicht - auf dem Heimweg werde ich das Stahlross in Rom in die Bahn verladen. 30 Kilometer nach Lerici, in Marina di Carara, beginnt die meist vierspurige Promenadenstrasse, die sich dem flachen Sandstrand entlang bis nach Viareggio hinzieht. Ketten von Badehäusern und Pavillons versperren die Sicht aufs mittlerweile grau gefärbte Meer. Links der Strasse reiht sich Hotel an Hotel, eines scheusslicher als das andere. So halte ich denn Kopf und Lenker tief, erhöhe das Tempo. Die Strandpromenade und alle andern Nebenstrassen führen kurz nach Viareggio unausweichlich auf die Via Aurelia. Die folgenden 20 Kilometer durch die Pinienwälder nach Pisa stellen das verkehrsreichste Teilstück meiner ganzen Reise dar: Links zischen die Autos, donnern die EG-genormten Lastenzüge vorbei, treiben den Radfahrer an und ziehen ihn in ihren Sog. Abwechslungsweise auf der Flucht und auf der Verfolgung der motorisierten Ungetüme hetze ich vorwärts. Dieweil stehen rechts am Strassenrand die grellgeschminkten Prostituierten, warten bereits am frühen Nachmittag auf Verkehrsteilnehmer, die Lust verspüren, sich mit einer von ihnen schnell mal in die Büsche zu schlagen. In den nächsten Tagen folgt der zweite Teil dieser Reise-Reportage. Sie führt durch die Toscana und Lazio nach Rom.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

Velofahrer

Anders Reisen – Umwelt schonen

Wie sich der Konflikt zwischen Reiselust und Klimafrust entschärfen lässt: Alternativen im Tourismus.

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Eine Meinung zu

  • Portrait_Josef_Hunkeler
    am 31.05.2019 um 18:23 Uhr
    Permalink

    Passt gut zum automatischen Rasenmäher der eingespielten Reklame. So what ?

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