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Sind sporadische Börsencrashs mit allen sozialen und politischen Verwerfungen systemimmanent? © cc

«Nach der Krise war bisher immer vor der Krise»

Red. /  Thomas Bieger hält weitere Wirtschaftskrisen für unvermeidlich. Man tut zu wenig, um diese zu vermeiden, entgegnet Marc Chesney.

Red. Dieses vom Journalisten Philipp Hufschmid geführte Interview erschien im Magazin des Schweizerischen Nationalfonds.

Hufschmid: Hätten die Wirtschaftswissenschaften die Finanzkrise voraussehen müssen? «Wieso hat das niemand kommen sehen?», fragte die englische Königin 2008 bei einem Besuch der London School of Economics.

Marc Chesney: Bildlich gesprochen ist es, wie wenn wir mit dem Auto trotz immer dichterem Nebel immer schneller fahren, bis es zu einem Unfall kommt. Wann er kommt, wissen wir nicht. Aber wir Ökonomen hätten rechtzeitig vor der Finanzkrise, vor den Systemrisiken warnen müssen. Bis auf wenige Ausnahmen haben wir das nicht getan.

Wie sehen Sie das, Herr Bieger?

Thomas Bieger: Die Wirtschaftsentwicklung ist geprägt durch ein mehr oder weniger regelmässiges Auftreten von Wirtschafts- und Finanzkrisen. Ein berühmtes Beispiel ist die holländische Tulpenkrise in den 1630er Jahren. Der Mechanismus ist immer ähnlich: Es wird in etwas investiert, in Tulpen oder eben bis 2007 in Immobilien in den USA. Je mehr die Preise steigen, umso mehr Menschen investieren spekulativ mit geliehenem Geld, in der Hoffnung rasch hohe Gewinne zu machen. Bis dann die Blase platzt. Wobei natürlich jeder hofft, dass er rechtzeitig aussteigen kann.
Dahinter steht ein zutiefst menschliches Phänomen: Man möchte mit wenig Aufwand schnell reich werden. Die Finanzkrise von 2007 wird also nicht die letzte gewesen sein. Sie war aber sehr gross, weil durch neue derivative Finanzprodukte ausserhalb der Bilanzen unerkannt hohe Risiken aufgebaut werden konnten.

Chesney: Finanzkrisen sind kein Naturgesetz. Anders als in einem Erdbebengebiet, in dem man immer mit Erdbeben rechnen muss, kann in der Finanzwelt vorgebeugt werden. Die Finanzkrise war mitunter die Folge einer zu hohen Verschuldung und der Entwicklung des Finanzkasinos, das nach der Aufhebung des Glass-Steagall-Gesetzes 1999 durch Präsident Clinton ausser Kontrolle geriet. Dieses Gesetz, das die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken vorschrieb, hatte dafür gesorgt, dass es zwischen 1933 und 1999 weniger Bankenkrisen gab. Es gibt also Spielraum für Politiker und Ökonomen, um Finanzkrisen entgegenzuwirken.

Bieger: Es stimmt, dass es weniger Bankenkrisen gab. Dafür gab es Öl- und auch schon Immobilienkrisen, weil auf andere Objekte «gewettet» wurde. Ich sehe die Aufgabe von uns Ökonomen einerseits darin, Instrumente für die Früherkennung und zur Bewältigung von Krisen zu vermitteln. Anderseits sollten wir Orientierungswissen schaffen, damit Politiker, Manager sowie Bürgerinnen und Bürger die Ereignisse einordnen können. Es gab Ökonomen, die vor der Finanzkrise gewarnt haben, doch wurden sie von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.

Welche Lehren müssen die Wirtschaftswissenschaften aus der Finanzkrise ziehen?

Chesney: Die Wirtschaftswissenschaften müssen einsehen, dass die Finanzkrise keine rein technische Krise war. Sie ist auch eine Krise der Werte. Ich zeige meinen Studierenden jeweils E-Mails von Händlern wie Jérôme Kerviel von der Société Générale, die dubiose Geschäfte gemacht haben, für die einige von ihnen ins Gefängnis mussten. Sie haben im Lauf ihrer Karriere alle Werte verloren. In den E-Mails vergleicht sich der eine mit Frankenstein, ein anderer mit einer Prostituierten, und der Dritte bezeichnet sich als süchtig nach Geld.
Als Wirtschaftswissenschaftler haben wir die Verantwortung, in der Lehre nicht nur über Preise, sondern auch über Werte zu sprechen.

Werden angehenden Ökonomen zu wenig Werte vermittelt, Herr Bieger?

Bieger: Als direkte Reaktion auf die Wirtschaftskrise haben sich die Universität St. Gallen und andere Wirtschaftsuniversitäten weltweit mit der Frage befasst, was in Lehre und Forschung verbessert werden kann, beispielsweise im Rahmen der Globalen Allianz für Managementausbildung.
Es braucht Massnahmen auf der technischen Ebene, indem nach der Ursache des Systemversagens gesucht und taugliche Regulierungen für Finanzinstrumente geprüft werden … Auf einer weiteren Ebene geht es um Interdisziplinarität. Wir müssen die Wirkungskette vom Verhalten des Menschen bis hin zu den Märkten verstehen. Dafür braucht es eine integrative Denkweise, die über die Wirtschaft hinausgeht … Wir haben zum Beispiel einen Handelsraum, in dem Marktsituationen durchgespielt werden können. Auch in Fallstudien wird vermehrt mit den Studierenden diskutiert, wieso sie in einer Situation eine bestimmte Entscheidung getroffen haben und was die Folgen wären, wenn sich alle Marktteilnehmer genau gleich verhielten. Das, was wir aus der letzten Krise lernen konnten, haben wir verarbeitet.

Sehen Sie weiteren Handlungsbedarf, Herr Chesney?

Chesney: Für eine akademische Karriere sind Publikationen in Top-Wissenschaftszeitschriften entscheidend. Diese sind im Finanzbereich stark von der Chicagoer Schule und insbesondere von deren Markteffizienzhypothese geprägt. Wer der Analyse dieser Schule kritisch gegenübersteht, hat deutlich kleinere Chancen, dort einen Artikel zu veröffentlichen. Die Folge davon ist, dass junge Ökonomen eher Themen mit mehr Publikationschancen wählen, um beruflich voranzukommen. Ein so wichtiges Thema wie Nachhaltigkeit kommt in den führenden Zeitschriften der Finanzwissenschaft aber nicht vor. Nötig wären also neue Top-Journale, die eine grössere Themenvielfalt ermöglichten.

Ist die freie Forschung durch den Zwang gefährdet, in bestimmten Top-Journalen zu publizieren?

Bieger: Verschiedene wissenschaftliche Gemeinschaften legen heute sehr grosses Gewicht auf Publikationen in Top-Zeitschriften. Manche Disziplinen werden tatsächlich stark durch einzelne Verlage oder bestimmte Netzwerke geprägt. Junge Forschende kommen nicht umhin, dort zu publizieren, wenn sie international wahrgenommen werden wollen. Mein Rat lautet deshalb: Man soll das eine tun, aber das andere nicht lassen.

Wir haben von Reformen der Institutionen gesprochen. Müssen auch gewisse Theorien und Modelle in den Wirtschaftswissenschaften überprüft werden?

Chesney: Ja. Es gibt heute leider viele Modelle mit wenig Bezug zur Realität. Zum Beispiel ist die Annahme, es gebe risikolose Anlagen, mit denen immer eine positive Rendite erzielt werden kann, heute schwer zu rechtfertigen. Sind zum Beispiel Staatsanleihen risikolos? Deren Renditen sind in der Schweiz oft negativ. Zeitweise war dies auch in Deutschland und Japan der Fall. Wir sollten genau hinschauen, welche Theorien und Modelle heute noch gültig und relevant sind, und inwiefern neue Konzepte entwickelt werden müssen. Das wurde nicht wirklich gemacht. Wenn man die heutigen Vorlesungsverzeichnisse mit jenen von 2006 vergleicht, stellt man fest, dass sich nur wenig geändert hat.

Bieger: Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel geben: Die Annahme war immer, dass bei sinkenden Zinsen mehr Geld für Ausgaben zur Verfügung steht und folglich der Konsum steigt. Tatsächlich steigt aber in mehreren Ländern mit Negativzinsen die Sparquote. Eine Verhaltenshypothese ist, dass die Menschen realisieren, dass Negativzinsen Auswirkungen auf ihre Altersvorsorge haben und sie mehr sparen müssen, um die Einbussen wettzumachen. Genau deshalb ist für die Überprüfung von ökonomischen Modellen eine disziplinen-übergreifende Sichtweise wichtig, die dem Menschen umfassend Rechnung trägt.

Nach der Finanzkrise wurde den Wirtschaftswissenschaften vorgeworfen, sie hätten es versäumt, Modelle für nachhaltiges Wachstum zu entwickeln. Wird dieses Thema heute angesprochen?

Chesney: Ich kenne keine Vorlesung in den Wirtschaftswissenschaften, die sich ernsthaft mit der Frage befasst, ob Wachstum für die gesamte Bevölkerung unbedingt erstrebenswert ist. Wachstum um jeden Preis scheint ein Dogma zu sein. Wachstumskritik ist weitgehend tabu. Es gibt zu viele Wirtschaftsmodelle, die vom Ressourcenverbrauch abgekoppelt sind. Wir müssen aber das Wachstumsstreben hinterfragen und versuchen, neue Modelle zu entwickeln.

Bieger: Das Konzept des nachhaltigen Wachstums, bei dem keine nicht erneuerbaren Ressourcen verzehrt werden, steht heute in allen Bereichen der universitären Ausbildung im Vordergrund. Auch in der Forschung ist das Konzept bei uns breit verankert: Wir haben mehrere Institute wie das Institut für Wirtschaftsökologie, an denen über Nachhaltigkeit geforscht wird …

Wachstumskritik ist also in erster Linie etwas für unsere Wohlstandsgesellschaft?

Chesney: Ja. Wer mit weniger als zwei Dollars pro Tag überleben muss, wie es weltweit für unzählige Menschen der Fall ist, für den ist mehr auch besser. Wir sollten aber zumindest über die Art des Wachstums nachdenken und andere Paradigmen entwickeln.

Haben die Wirtschaftswissenschaften aus der Finanzkrise genug gelernt?

Chesney: Nein, es fehlen Anreize, um die Lehren aus der Finanzkrise zu ziehen.

Bieger: Ich bin überzeugt, dass wir die nötigen Lehren aus der vergangenen Finanzkrise gezogen haben. Was mich umtreibt, ist, dass bisher nach der Krise immer vor der Krise war. Und dass wir wie immer nicht wissen, wo das nächste Problem entstehen kann.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Dies ist eine gekürzte Fassung von «Die krisenresistente Wirtschaft ist noch nicht erfunden», erschienen im Horizonte Nr. 114 (September 2017), dem Forschungsmagazin des Schweizerischen Nationalfonds und der Akademien der Wissenschaften Schweiz. Das Interview leitete Philipp Hufschmid, Redaktor der Berner Zeitung.

Zum Infosperber-Dossier:

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3 Meinungen

  • am 14.09.2017 um 14:22 Uhr
    Permalink

    Die entscheidende Analyse wurde vor 150 Jahren geschrieben, siehe heutige NZZ:

    «Das Kapital» ist ein Klassiker mit trauriger Aktualität. Vor 150 Jahren veröffentlichte Karl Marx sein Hauptwerk. In einem Gastbeitrag erklärt der Philosoph Christoph Henning, weshalb «Das Kapital» noch heute von Bedeutung ist.

    Ja, vor der Krise! Nichts gelernt, weil die Wirtschaftswelt nichts lernen will. Warum wohl nicht?

  • am 16.09.2017 um 08:04 Uhr
    Permalink

    Prof. Binswanger, Uni St. Gallen, hat schon während meiner Studienzeit, 1968-1972, das qualitative Wachstum (Nachhaltigkeit, Öko-Effizienz) statt quantitatives Wachstum (Ressourcen-Verschwendung, Umweltzerstörung) gelehrt.

  • am 20.09.2017 um 19:20 Uhr
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    Danke Herr Schenk, auch mir ist während dem lesen des Artikels «Das Kapital» eingefallen. Solange keine Alternative zum Kapitalismus herangezogen wird, wird man keine Lösung finden. Denn, nach der Krise = vor der Krise, ist fester Bestandteil des kapitalistischen «Systems».

    Zudem halte ich den Begriff Wirtschaftswissenschaftler für unvereinbar mit, zumindest meiner eigenen Auslegung von Wissenschaft. Wirtschaftstheoretiker würde es meiner Meinung nach eher treffen.

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