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Theo Pinkus © Salecina-flickr-cc

Fünf nach zwölf, na und? Weltuntergangsgespräch 4

Jürgmeier /  «Wenn ich das heutige kritische Potenzial vergleiche, dann ist dieses Potenzial viel grösser als damals.» Gespräch mit Theo Pinkus

Red. Die Angst geht um. Auch in diesen Tagen. Die Angst, dass Kinder und Kindeskinder keine Zukunft mehr haben könnten. Die Angst vor Krieg und Vertreibung, ökologischen und ökonomischen Zusammenbrüchen, vor dem «Big Bang», wie das in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts genannt wurde. Die Angst vor Weltuntergängen war damals für «Infosperber»-Redaktor Jürgmeier Anlass für die Herausgabe des Buches «Fünf nach zwölf – na und? Sind wir die Endzeit-Generation?» (Nachtmaschine-Verlag, Basel). In dem Jahr, 1983, in dem dieser Sammelband erschien, trat Bundesrat Willy Ritschard zurück und starb kurz darauf, in Deutschland zogen die Grünen erstmals ins Parlament ein, Kanzler war Helmut Kohl, US-Präsident Ronald Reagan, sowjetischer Staats- und Parteichef Jurij Wladimirowitsch Andropow. Es war die Endphase des Kalten Krieges, noch trennte die Mauer Ost und West, ein südkoreanischer Jumbo-Jet wurde auf dem Flug von New York nach Seoul mittels russischer Raketen abgeschossen, US-amerikanische Elitetruppen besetzten die Karibikinsel Grenada, und der Stern blamierte sich mit der Veröffentlichung gefälschter Hitler-Tagebücher.

«Was halten Sie von den Prognosen, die besagen, dass die Lebensgrundlagen auf unserer Erde in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten durch Umweltzerstörung oder Krieg zerstört werden?» Mit dieser Frage eröffnete Jürgmeier 1983 eine Reihe von Gesprächen mit bekannten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen für dieses Buch. Wir veröffentlichen einen Teil von ihnen in loser Folge. Als Erinnerungen an die Zukunft.

Heute: Theo Pinkus. Der damals in Berlin lebende Kommunist und Jude wurde 1933 von der SA vorübergehend verhaftet. Nach seiner Freilassung kehrte er, auf Rat des Schweizer Botschafters in Deutschland, in die Schweiz zurück. 1943 wurde er aus der Kommunistischen Partei der Schweiz, 1950 aus der Sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen. Später trat er der Partei der Arbeit bei. Zum Zeitpunkt des Gesprächs und in den Jahren danach war der pensionierte Buchhändler – er hatte ein Antiquariat, einen Büchersuchdienst und die später selbstverwaltete «Limmatbuchhandlung» aufgebaut – mit der Betreuung der «Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung», der Herausgabe des «Zeitdienstes», Publikationen, Vorträgen, Seminarien und Kursen (er gehörte zu den Mitbegründern des «Ferienzentrums Stiftung Salecina» in Maloja) beschäftigt. Er starb 1991.

Jürgmeier: Was hältst du von den Prophezeiungen, die Welt gehe noch in diesem Jahrhundert an Umweltzerstörung oder Krieg zugrunde?

Theo Pinkus: Ich glaube, nie war eine solche Weltuntergangsvision stärker in materiellen und technischen Dingen begründet als heute. Es hat solche Visionen immer gegeben, aber, heute ist die Qualität der Untergangsmöglichkeiten ganz entschieden gestiegen. Wenn die Sintflut schon eine solche Vision war, so ist heute eine weitgehende Zerstörung der Erde durch Atombomben oder auch durch Störungen bei Atomkraftwerken durchaus möglich.
Dazu kommt die Polarisierung der Welt. Die kapitalistischen Länder wollen auf keinen Fall eine weitere Ausbreitung von Gebieten zulassen, die nicht unter ihrer Kontrolle, unter ihrer direkten Ausbeutungsmöglichkeit in Bezug auf Arbeitspotenzial und Rohstoffe stehen. Wir sind mit einer Polarisierung zwischen den grossen Mächten, geführt durch die USA einerseits und die Sowjetunion andrerseits, konfrontiert. Die dauernde Weiterrüstung im atomaren Bereich hat dazu geführt, dass ein winziger Prozentsatz dessen, was effektiv schon vorhanden ist, genügt, um ganze Erdteile zu vernichten.
Für die Jugend, die in diese Zukunft hineinwächst, ist die Losung «No future» eine sehr reale Sache. Die Frage ist für sie, woher sollen sie ein Zukunftsbild nehmen, nachdem der Kommunismus als – in der ursprünglichen Idee – eine freie auf Gerechtigkeit beruhende Gesellschaft ohne Krieg und Ausbeutung mit dem heute real existierenden Sozialismus in den sozialistischen Ländern, in anderen Ländern mit der Praxis der Sozialdemokratie und wenn das Christentum mit der institutionalisierten Kirche gleichgesetzt wird. Diese Gleichsetzung hat dazu geführt, dass alles fragwürdig geworden ist.

«Für die Jugend, die in diese Zukunft hineinwächst,
ist die Losung «No future» eine sehr reale Sache.»

Mit welchen Gefühlen schaust Du selbst in die Zukunft?

Mit Gefühlen ist da wenig zu machen. Für einen überzeugten Christen, der Wort und Tat in Übereinstimmung wünscht, gibt es einen Hoffnungsschimmer, weil er seiner religiösen Bindung wegen an eine über dem Menschen stehende transzendente Macht glaubt und daran, dass diese Macht, man nenne sie Gott oder anders, nicht ihr eigenes Werk vernichten wird.
Bei den überzeugten Marxisten, zu denen ich gehöre, ist das Prinzip Hoffnung, das Ernst Bloch gültig für die heutige Situation in vielen Aspekten dargestellt hat, durchaus noch immer vorhanden. Wir werden auch deswegen manchmal als Pseudoreligiöse oder Spinner betrachtet. Die Realität sei eben anders, werfen uns gerade diejenigen vor, die einer viel unmöglicheren, einer geradezu absurden Utopie nachrennen, nämlich der dauernden Steigerung des Maximalprofits. Für sie sind die schwarzen Zahlen Gott, die roten der Teufel. Sie machen alles für Gewinn und Profit und setzen den Menschen als reines Potenzial technischen Zubehörs für diese unglaublich absurde Idee ein. Diese Generation von Managern, die in speziellen Schulen darauf getrimmt wird, wie man am meisten Gewinn machen kann, gehört zu den Ursachen dessen, was uns droht, und alles ist letztlich mit der Kriegsindustrie verbunden, die überall ihre Gewinne scheffeln will.

Aber, Du hast noch immer Hoffnung, dass wir da heil herauskommen?

Diese Hoffnung ist keine transzendente, keine übersinnliche und schon gar keine in das Leben nach dem Tod verpflanzte, was heute wieder etwas moderner geworden ist. Im Gegenteil, ich bin der Meinung, wir müssen uns mit dem Leben vor dem Tod beschäftigen und den Tod als einen natürlichen Vorgang akzeptieren, aber nicht noch künstlich fördern.

Glaubst Du, dass es der Linken und den verschiedenen neueren Bewegungen gelingen wird, die zerstörerische Entwicklung noch rechtzeitig zu stoppen, oder werden die Mächtigen selbst zur Einsicht kommen?

Dass die Mächtigen zur Einsicht kommen, ist nicht anzunehmen – der Profitwahn ist stärker. Bei denen gelten nach wie vor die eisernen Gesetze der kapitalistischen Entwicklung. Marx hat schon im «Kapital» sehr genau beschrieben, dass Profit keine Grenzen in Ausbeutung und Unmenschlichkeit kennt, wenn man das Kapital nicht hindere. Hier ist, glaube ich, keine Einsicht zu erwarten. Aber, das sind ja nicht nur Institutionen und Multis, in denen abgerichtete Menschen stumpf tun, was die Rechner der schwarzen und roten Zahlen bestimmen. Überall sind lebendige und auch kritische Menschen. Es gibt, wenn auch noch wenige, die aussteigen, selbst aus diesen herrschenden verantwortlichen Kreisen – verantwortlich für das rücksichtslose Wachstum ihrer Firma, für das, was uns bedroht.
Ich glaube, es wird in diesen Institutionen immer mehr Menschen geben, die entweder aussteigen oder, wenn sie eine Bewegung spüren, die hinter ihnen steht, wenn sie nicht allein und isoliert sind, wenigstens subversiv handeln, solange sie ausharren. Robert Jungk hat mir gesagt, sein neues Buch werde «Das Menschenbeben» heissen, und er geht davon aus, dass überall Bewegungen im Gange sind, in den Köpfen einzelner oder in Gruppen von Menschen, die gesamthaft gesehen tatsächlich eine Wende herbeiführen könnten, und ich glaube, da hat er recht.
Wenn ich das heutige kritische intellektuelle Potenzial all diesen Erscheinungen gegenüber vergleiche mit der Weimarer Republik, und auch bei uns vor 50, 60 Jahren, dann ist dieses Potenzial unendlich viel grösser als damals. Trotz aller Integrationsgeschichten bei den Achtundsechzigern ist das im europäischen Raum gesehen immerhin eine Schicht, die Millionen umfasst, und das ist eine entscheidende Gruppe. Es wird immer Leute geben, die kapitulieren, die gestern so waren und heute anders, aber, was zurückbleibt, ist viel grösser und unendlich fähiger zu kämpfen als es je der Fall war, und diese Kraft steht neben und ist zum Teil, wenn auch noch sehr lose, verbunden mit der immerhin gross entwickelten Gegenmacht gegenüber dem Kapital, den Gewerkschaften. Man/frau kann über die Gewerkschaften schimpfen, aber, die Gewerkschaften sind und bleiben eine Barriere gegen das, was uns bedroht.

«Wir Alten haben’s gut, wir können nicht mehr jünger sterben.»

Du glaubst also, ganz persönlich, dass es gelingen wird, keine Resignation?

Es gibt bei uns einen Slogan, der heisst: Wir Alten haben’s gut, wir können nicht mehr jünger sterben. Das ist kein Zynismus, sondern durchaus ein Signal für die Gefahr, mit der wir konfrontiert sind. Andrerseits glaube ich nicht, dass wir die Einzigen sind, die das alles erkennen. Es gibt noch Tausende, Millionen, die mindestens so gescheit sind wie wir.
Es gibt glücklicherweise nicht nur in unserer Generation vernünftige Leute, sondern auch bei den zwanzig Jahre Jüngeren, bei den vierzig Jahre Jüngeren, bei den 15- und 20-Jährigen. Wenn die in ihrer weiteren Entwicklung, diese und jene Tatsachen zur Kenntnis nehmen und daraus die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen, nicht zuletzt auch durch Auswertung der Erfahrungen, die wir Älteren gemacht haben, dann werden sie auch vernünftig Stellung nehmen. Resignation ist für mich ein Thema, mit dem ich mich dauernd herumschlagen muss, aber nicht bei mir selbst, genauso wie mit dieser narzisstischen Linie, die jetzt wieder modern ist, dieses Nur-noch-von-seinen-eigenen-Problemen-sprechen.
Wir Menschen sind nach meiner Erfahrung von dem getrieben, was wir im weitesten Sinn als Eros erleben. Wir wollen als Menschen überleben, nicht nur überleben, sondern leben, und unsere Gattung will nicht aussterben, sondern will weiterleben. Dafür mache ich alles, das ist eine philosophische Grundlage, die gleichzeitig ein ethisches und moralisches Verhalten mitbedingt. Es gibt mir einen gewissen Sinn, dieses Weiterleben zu sichern, für mich und die anderen.

Du bist ja seit Jahrzehnten Marxist – muss sich der Marxismus in der heutigen Situation nicht von traditionellen Vorstellungen lösen? In Zusammenarbeit mit diesen neueren Bewegungen? Siehst Du Möglichkeiten für diese Zusammenarbeit?

Die grösste Gemeinschaft, die wir haben, die in diesem Sinne etwas ändern will und kann, aber leider in vielen Fällen mit der bürgerlichen Macht verbunden ist, das sind die Gewerkschaften, die sind eine Gegenmacht. Dazu gehört auch die politische Vertretung der Lohnarbeiter, d.h., die Sozialdemokratische Partei und die Kommunistische Partei, wo diese noch eine Bedeutung hat. Und dann muss in die marxistische Analyse die neue verändernde Kraft einbezogen werden, diese viel breitere kritische Intelligenz, die Alternativbewegungen, die Bürgerrechtsbewegungen, die alle Parteigrenzen gesprengt und einige Fragen richtig gestellt haben, Fragen, die von den Parteien nicht mehr beantwortet werden können.

«Es ist unmöglich, ein dauerndes Wachstum zu haben, das muss
beschränkt werden, wenn nicht sogar darauf verzichtet werden muss.»

Es gibt vier Fragen, die in ihrer Bedeutung fast gleichwertig sind:

• Die Wachstumsfrage: Es ist unmöglich, ein dauerndes Wachstum zu haben, das muss beschränkt werden, wenn nicht sogar darauf verzichtet werden muss. Als Alternative zu einer Konsumgesellschaft mit endlosem Wachstum einerseits und Verelendung andrerseits muss eine regional-autarke Selbstversorgungspolitik betrieben werden, die auf Zentralisierung verzichtet, d.h. beispielsweise, keine Riesensonnenkraftwerke als Alternative zur Atomenergie, sondern dezentralisierte Sonnenkollektoren. Die moderne Technik steht nicht unbedingt im Widerspruch zu einer Beschränkung des Wachstums. Keine Gewerkschaft und keine sozialdemokratische Partei, auch keine kommunistische, verzichtet auf diese Wachstumstheorie. Da gilt immer noch die vulgär-marxistisch dogmatische Meinung des ununterbrochenen Wachstums der Produktivkräfte, die ja Marx selber schon eingeschränkt hat, indem er die Brutalität des kapitalistischen Systems aufgezeigt hat, dieses Systems, das durch das Wachstum der Produktivmittel immer brutaler und schlimmer wird, bis zur völligen Deformation, bis zum Schmieden der Sargnägel für andere Völker in Form von Waffen, die produziert werden, nur damit man/frau Arbeit hat. Das ist nicht mehr in traditionellen Vorstellungen lösbar, das ist lösbar durch die Friedensbewegung, durch eine klare Haltung gegen Atomkraftwerke und andere zentralisierte lebensgefährdende Grosstechniken.
• Das zweite ist die autonome Frauenbewegung: Keine Partei wird je imstande sein, die Emanzipation der Frauen konsequent zu verfolgen, weil die Parteien alle von Männern regiert werden und weil Frauen, die in Schlüsselpositionen kommen, zu Männern umfunktioniert werden. Es zeigt sich, dass das Parteiensystem nie feministisch sein kann, weil es letzten Endes von Männern regiert und geführt wird. Das gilt auch für die entscheidenden Teile des Staatsapparates in den sozialistischen Ländern.
• Das dritte Problem ist die Emanzipation überhaupt: Keine Partei kann auf Disziplin und Hierarchie, auf eine funktionierende Bürokratie oder entsprechende Organisationsform verzichten, und sie ist immer bereit, emanzipatorische Tendenzen zu unterdrücken, Eigeninitiativen zu hemmen – so wird ständig ein theoretisch emanzipatorisches Programm mit einer antiemanzipatorischen Praxis verbunden.
• Und das vierte ist, dass bis jetzt noch keine Partei, trotz aller Deklarationen, eine konsequente Politik in der nationalen und der Minderheitenfrage entwickeln konnte. Ausbeutung, Hunger, Not und Unterdrückung können Parteien nicht beseitigen. Wer löst die Probleme? Leute innerhalb der Partei gemeinsam mit Leuten ausserhalb der Parteien können praktisch täglich an diesen Lösungen arbeiten.

«Auch in dieser Frage heisst marxistisch: Dazulernen.»

Die Frauenbewegung wird wesentlich sein für Veränderungen in der Gesellschaft. Sie ist so entscheidend, dass sich viele heute als Sachzwang erscheinenden miserablen Dinge, die unser Leben bedrücken und zerstören, verschwinden werden und keine Sachzwänge mehr da sind, wenn wirklich befreite Frauen Machtpositionen im Rahmen unserer Gesellschaft haben, und zwar ihrer Stärke entsprechend. Die Frauen sind ja keine Minderheit, sondern 51% der Menschheit. Die Emanzipation der Frauen wirkt sich natürlich auch auf die Männer aus, die sich in einer Übergangszeit vielleicht geschwächt und verunsichert fühlen werden, was nur gut sein kann. Die Männer werden sich erst dann von der Herrschaft über die Frauen emanzipieren, wenn die Frauen selber aktiv sind, und da sind wir ja auf dem besten Wege, da gibt es sehr viele positive Entwicklungen. Auch in dieser Frage heisst marxistisch: Dazulernen.

Wie siehst Du denn diesen künftigen Kampf, es wird ja immer wieder gesagt, der Einzelne müsse sich stärker exponieren, mutiger für seine Sache einstehen…

Es geht hier nicht um den Einzelnen, sondern um Gemeinschaft. Den Einzelnen gibt es eigentlich gar nicht. Wenn er sich als Einzelner fühlt, dann ist er eine Stütze des Regimes, dann setzt er sich von den gesellschaftlichen Vorgängen ab und leistet den Herrschenden praktisch keinen Widerstand. Es gibt nur Menschengruppen, die zusammenwirken. Die Einzelnen, die Gruppen müssen sich zusammenschliessen und gemeinsam in ihrer unmittelbaren Umgebung Veränderungen herbeiführen, sie müssen Theorie und Praxis verbinden.

Darüber hinaus stellt sich ja die Frage der Mobilisierung der breiten Bevölkerung, die sich bei uns allzu häufig gegen ihre eigenen Interessen stellt.

Wir haben eine Chance für Basisaktivitäten eben dieser Leute, der Betroffenen, wie nie zuvor – dank der technischen Möglichkeiten, die wir heute haben, z.B. die modernen Reproduktionsmöglichkeiten von Texten, Flugblättern, Zeitungen usw. Wir haben auch die Leute in einem viel grösseren Masse, die diese technischen Möglichkeiten (auch Video, Lokalradio usw.) handhaben können. Das müssen wir ausnützen und nicht wie ein Kaninchen vor der Schlange stehen. Wir müssen da voll einsteigen, dann sind wir in ein, zwei Jahren soweit, dass wir einen Vorgang, der alle bedrückt und beschäftigt, filmen, wenige Stunden später auf eine weisse Hauswand projizieren und den Leuten nochmals vorführen können, was sie erlebt haben, und so Kritik sowie Bewusstsein stärken – Voraussetzungen des Handelns. Wir dürfen uns heute nicht gegen die moderne Technik, die neuen Medien wenden, nur weil damit Horrorfilme, miese Antifrauen- und Sexfilme produziert werden. Wir müssen das Gegenteil machen, es gibt eine immer grössere Gegenmacht. Diese Gegenmacht ist heute nicht nur in den Gewerkschaften und in den linken Parteien organisiert, wie in den letzten 150 Jahren seit der Entwicklung des Kapitalismus, sie besteht heute auch aus einer grossen Zahl quer durch alle Gesellschaftsschichten gehender Menschen, die ihren Brennpunkt sicher auch heute noch in der Arbeiterbewegung mitfinden, die tatsächlich imstande sind, Gegenmacht zu entwickeln und Gegenmachtaktionen zu führen.

«Wir dürfen uns heute nicht gegen die moderne Technik,
die neuen Medien wenden, nur weil damit Horrorfilme,
miese Antifrauen- und Sexfilme produziert werden.»

Keine Kritik der Technologie also, die Technik bleibt für Dich wertfrei?

Nein, nein, es gibt absolute Irrwege der Technik, die Atomenergie beispielsweise. Anders ist es mit dem Computer. Heute nimmt er den Arbeitern und vor allem den Angestellten die Arbeitsplätze weg, aber, in Wirklichkeit ist das nicht der Computer, sondern der Besitzer der Produktionsmittel. Mit dem Computer, vor allem mit den Kleincomputern, können wir – wie mit Sonnenkollektoren – eine weitgehend dezentralisierte Gesellschaft mit einer teilweisen regionalen Autarkie aufbauen. Man/frau kann sich gut vorstellen, dass eine sehr vernünftige Ökonomie – Basisökonomie und Selbstversorgung – auf der Grundlage eines zumindest unteren Wohlstands, wie wir ihn heute bei uns für viele haben, weitergeführt werden kann.

Bürgerliche Ökonomen propagieren die Mikroelektronik als Heilmittel gegen die heutige wirtschaftliche Krise, siehst Du als Marxist in der Mikroelektronik ebenfalls die Chance zur Lösung der gegenwärtigen Krisen?

Nein, ich meine nur, dass wir das ausnützen können und sollen. Ich finde es viel vernünftiger, gewisse Rechnereien in zehn Minuten zu machen statt in einem halben Jahr. Das ist keine Frage. Aber, die negativen Auswirkungen des Computers, die heute offensichtlich bestehen – Zerstörung der Arbeitsplätze, Zerstörung der Augen und der Denkprozesse –, die müssen wir natürlich bekämpfen. Aber, die Mikroelektronik ist – im Gegensatz zur Atomenergie – sicher kein Irrweg der Technik. Durch Mikroelektronik wird niemand direkt umgebracht, allerdings strategisch – im Kriegsfall – können damit sehr viele umgebracht werden, das wissen wir.
Natürlich ist die Technik nicht wertfrei, aber, sie kann differenziert eingesetzt und benutzt werden. Da gilt nach wie vor die alte marxistische Frage: Wer verfügt über die Technologie? Dieses Darüber-Verfügen bedeutet nicht nur, die Technik einfach zu übernehmen, wie es das heutige Kapital vorschreibt, und es bei sich einzusetzen oder diese kapitalistische Technologie womöglich noch überholen zu wollen, wie dies heute in der Theorie sozialistischer Ökonomie der Fall ist, sondern es geht darum, sie nach menschlichem Mass genau da und in dieser Form einzusetzen, die das Leben fördert, entwickelt und nicht zerstört. Voraussetzung ist eine sich weitgehend selbst verwaltende, wachsende Gemeinschaft mit gegengesellschaftlichen Netzen, eine Gemeinschaft, die ihre Gebrauchswerte tauscht sowie, statt Konkurrenz und Profit, gegenseitige Hilfe entwickelt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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2 Meinungen

  • am 16.01.2018 um 15:54 Uhr
    Permalink

    Das Gegenteil von gut ist gut gemeint – Dies sagte einst Kurt Tucholsky und er hat recht! Warum sind einige der guten Beiträge auf Infosperber so lang gefasst? Geht es nicht etwas prägnanter und damit kürzer? Oder wird Infosperber nur von über 70 Jährigen gelesen, die eine Menge Zeit und kein anderes Vergügen haben?

  • am 17.01.2018 um 16:31 Uhr
    Permalink

    Sehr geehrter Herr Dueggelin,
    Versuchen Sie es doch beim Blick.
    Dort wird Theo Pinkus bestimmt nicht so ausführlich. Michael Ringier denkt sogar noch für seine Leser.Anders kann ich mir sein Urteil über Lukas Hässig nicht erklären.

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